Foto: © Annett Melzer
Sucha Gesina Wolters verfügt über einen Erfahrungsschatz von mehr als 40 Jahren in der Arbeit mit Einzelnen, Paaren und Gruppen. Die ausgebildete Diplompädagogin war lange als Dozentin und Sozialarbeiterin in der Erwachsenenbildung tätig. Sie ist ausgebildet in transparenter Kommunikation (nach Thomas Hübl) und begleitet Prozesse zur Gemeinschaftsbildung. Zudem arbeitet Sucha in einer eigenen Praxis als als SE-Therapeutin (somatic experiencing: Traumabegleiterin nach Peter Levine). Sie lebt mit ihrer Frau in einer kleinen Gemeinschaft in einem Dorf bei Bad Belzig.
Du gibst bereits seit zwei Jahren Workshops im well:being & co:lab-Programm. Was hast du für dich mitgenommen? Was hat dich überrascht?
Das stärkste, was ich für mich mitgenommen habe, war ein tiefes Gefühl von Sinn. Im Kern wollten wir mit dem Projekt Menschen erreichen, die sehr für andere da sind und die mit ihrem Wirken Veränderungen in der Gesellschaft erzielen. Für viele dieser Menschen war der Gedanke, sich selbst als Ressource zu betrachten, erst mal verblüffend. Sich um sich selbst und seine seelische und körperliche Gesundheit zu kümmern, ist ebenso wichtig, wie schonend mit anderen Ressourcen umzugehen. Wenn wir eine nachhaltige Kultur entwickeln wollen – ökologisch, sozial und ökonomisch, dann müssen wir Nachhaltigkeit auch in uns selbst entwickeln. So entsteht eine Kohärenz zwischen Innen und Außen. Das finde ich wichtig für das eigene Lebensgefühl und auch für die eigene Wirksamkeit.
Ich fand es überraschend, wie schnell sich die Menschen ebenso selbst wie in der Gruppe nahe gekommen sind. Und das, obwohl sie sich vorher nicht kannten. Es wurde sehr persönlich miteinander gesprochen. Das hat mich außerordentlich beeindruckt. Ich habe den Eindruck, dass die Zeit nun reif dafür ist, dass Menschen in einer neuen Art über sich selbst sprechen und sich verbinden - nicht nur auf einer mentalen Ebene, sondern mit Kopf, Herz und Körper.
Mir war es ein großes Anliegen, möglichst schnell für einen sicheren Raum zu sorgen. Angst gehört zu den natürlichen Gefühlen des Menschen und braucht auch ihren Platz. Wenn es aber chronisch wird, einander mit Angst zu begegnen, kann darin ein kollektives Trauma verborgen liegen.
Du begleitest Menschen im Umgang mit Traumata. Welche kollektiven Traumata hat unsere Gesellschaft aktuell zu bewältigen und wie sind wir als Individuen davon betroffen?
Trauma bedeutet, dass etwas geschieht, dass so überwältigend ist, dass es nicht verarbeitet werden kann, so dass dessen Wirkung auch heute noch da ist. Psychische Ausnahmesituationen wie Kriege, Katastrophen und Krisen stellen früher wie heute eine Bedrohung für das Leben oder die körperliche und seelische Unversehrtheit dar und verursachen kollektive Traumata. In der individuellen Begleitung von Klient*innen sehe ich als Folge daraus ähnlich auftretende Symptomatiken. Als roter Faden nehme ich bei vielen ein starkes Gefühl von Verunsicherung wahr. Als habe man keinen sicheren Boden unter den Füßen.
Dinge, die sich wie bewältigt angefühlt hatten, treten zur Zeit wieder gehäuft zum Vorschein. Es ist für viele Menschen erleichternd, wenn sie erfahren, dass das nicht nur ihnen alleine so geht, sondern dass es auch ein kollektives Phänomen ist.
Ich erlebe das auch bei mir: Der Kriegsausbruch in der Ukraine war ein Schock. Das ging bis in die Wurzeln hinein, diese Erschütterung. Die ist auch weiterhin vorhanden. Die Entwicklung in den letzten zwei Jahren hat an vielen Stellen Fahrt aufgenommen: Corona und der Umgang damit, der Krieg in der Ukraine, die Energiekrise. In einer extremen Veränderungsgeschwindigkeit und einer hohen Dichte. Das löst, auch auf dem Hintergrund eigener und kollektiver Traumatisierung, einen Zustand von Überforderung aus.
Die Auswirkungen von kollektivem Trauma spüren wir im Inneren. Ich als Individuum bin Teil des Ganzen. Hier geht es darum, mein Inneres zu fühlen, mich in einen größeren Kontext zu stellen und mich mit anderen Menschen zu verbinden. Kollektive Traumafolgen führen dazu, dass wir Dinge für normal halten, die wir vor traumatisierenden Erfahrungen nicht für normal gehalten hätten. Wenn wir uns beispielsweise verletzt fühlen, ziehen wir uns zurück und finden das dann normal.
Welche inneren Fähigkeiten werden in Zukunft für ein gesundes Zusammenwirken wichtig? Welcher Veränderungen bedarf es, damit es Menschen besser geht?
Ich denke, die Gegenwart fordert uns dahingehend heraus, dass wir unsere Vorstellung davon anpassen, was gutgehen bedeutet. Dass es mir gut geht, bedeutet nicht zwangsläufig: Ich bin glücklich und entspannt. Es sollte auch eine Vorstellung von “gutgehen” geben, die beinhaltet, dass wir mit Spannungen umgehen können.
Damit meine ich, dass ich mich in einem Raum mit unterschiedlichen Perspektiven bewegen kann, sowohl Innen als auch Außen, in dem große Diversität und Spannungen herrschen. Ich kann dann weiterhin anwesend bleiben, ohne mich innerlich zu verabschieden oder reagieren zu müssen. Ich kann mich entspannen und ankommen, auch wenn Spannungen da sind.
Für mich ist es außerdem ein Anliegen, dass Menschen sensibler in der Wahrnehmung des eigenen Nervensystems werden. Es ist wichtig, die verschiedenen Erregungszustände, in denen wir und unsere Mitmenschen sich befinden, wahrzunehmen und einen Umgang damit zu finden.
Ich glaube, dass wir einen täglichen achtsamen Umgang mit unserem Nervensystem brauchen, der genauso selbstverständlich ist wie Zähneputzen.
In meiner Zukunftsvision ist das etwas ganz Normales, wenn Menschen zusammenkommen. Ich erlebe überall, dass sich Personen in hitzigen Diskussionen weiter mit Inhalten beschäftigen, obwohl eigentlich alle Nervensysteme auf der Frequenz des Überlebensmodus unterwegs sind – also auf Flucht, Kampf oder Totstellen. Man kann sich fragen, ob auf dieser Frequenz nachhaltige Entscheidungen überhaupt möglich sind. Menschen können nicht kooperieren, wenn sie sich auf einem hohen Erregungsniveau befinden, weil sie sich dann als feindselig erleben.
Wir brauchen die Fähigkeit, mit Spannungszuständen anders umzugehen. Ich glaube, das erfordert ein großes Umdenken, wozu auch gehört, einen anderen Umgang mit Hilflosigkeit zu finden. Beim Empfinden von Hilflosigkeit kommen häufig Emotionen wie Angst oder Gedanken wie “das ist nicht aushaltbar” hoch. Es braucht Menschen, die diese Spannung halten können, die darunter nicht kollabieren oder sich klein machen. Ich halte es für wichtig, ein vollkommen anderes Verhältnis zu Hilflosigkeit zu entwickeln. Genauso sehe ich das bezüglich unseres Umgangs mit Wissenslücken. Wir wissen einfach sehr wenig. Nach wie vor gelten Sokrates’ weise Worte: "Ich weiß, dass ich nichts weiß.” Jede und jeder von uns spürt, dass von dem verfügbaren Wissen kein*e Einzelne*r alles abrufbar haben kann. Dennoch ist Nicht-Wissen sehr schambehaftet oder gar skandalös. Dabei ist es zutiefst menschlich, nicht zu wissen und für eine nachhaltige Zukunft unabdingbar, das nicht zu überspielen.
Was tust du für dein persönliches Wellbeing?
Ich schätze immer mehr wert, was Beziehungen, Liebesbeziehungen und Freundschaften bedeuten. Dafür nehme ich mir Zeit. Und dafür, Freude daran zu haben, durch den bunten Herbstwald zu laufen. Zu sehen, zu hören, zu riechen. Es stärkt mich sehr, Dinge zu tun, die ich mit allen Sinnen wahrnehme. Außerdem habe ich wieder angefangen zu malen. Ich kann das eigentlich gar nicht, aber jetzt sitze ich mit einer kleinen Gruppe von Frauen einmal in der Woche in der Volkshochschule und lerne, Wolken und Himmel in Aquarellfarbe zu malen. Dabei kann ich vollkommen abschalten.
Da wo ich jetzt gerade in meiner Biografie stehe, genieße ich besonders die scheinbar kleinen Dinge. Ich versuche, das JETZT zu lieben. Mit den Sinneseindrücken, die das Leben mir schenkt. Meinen Nachbarskindern zuzuschauen, wie sie Freude am Einradfahren haben. Oder nachts über den Hof zu laufen und den Vollmond wahrzunehmen. Ich mag es zu spüren, was das mit mir macht, ganz bei mir anzukommen und meine Quelle so am Sprudeln zu halten.
Was beschäftigt dich aktuell? Gibt es ein Anliegen, das du gerne noch teilen möchtest?
Du hast sicher gemerkt, dass ich ein großes Interesse an Nervensystemen habe. In mir verdichtet sich immer mehr, dass ich mich damit noch mehr beschäftigen möchte und dazu beitragen, dass das Wissen darüber sich verbreitet. Dazu bekomme ich auch vermehrt Anfragen. Es scheint sich da etwas zu formen.
Hier stehe ich im Moment. Und wer weiß, was da noch kommt? Ich bin im Januar zwar 65 geworden und habe für nächstes Jahr schon den Rentenbescheid bekommen, aber so fühle ich mich noch nicht. Körperlich merke ich schon wie alt ich bin, aber ich liebe meine Arbeit in all ihren Aspekten mit Einzelnen und Gruppen und ich möchte sie noch lange machen.
Ich weiß nicht, wie das hier reinpasst, aber was gerade in mir auftaucht, ist ein Gedicht: “Nicht müde werden, sondern dem Wunder leise wie ein Vogel die Hand hinhalten.” (von Hilde Domin).