Wann ist ein Mann ein Mann?

Schon gewusst, dass es einen Men’s Mental Health Month gibt? Jetzt im Juni, parallel zum Pride Month. Stimmt gar nicht? Der ist im November? Oder etwa beides? Vielleicht wäre es am besten, wenn Männer sich jeden Monat um ihre mentale Gesundheit kümmern würden. Denn die Statistiken sprechen eine deutliche Sprache.

Im Schnitt nehmen sich jeden Tag 18 Männer in Deutschland das Leben. Ja, auch Frauen machen Selbstmord. Aber laut Statistischem Bundesamt werden 75% der Suizide von Männern begangen. Studien zufolge sind Männer häufiger mit psychischen Problemen konfrontiert, die mit Obdachlosigkeit oder Alkohol- und Drogenabhängigkeit zusammenhängen. 87 % der Obdachlosen sind Männer. Abhängig von Alkohol und anderen Drogen sind dreimal so viele Männer wie Frauen. Trotz dieser frappierenden Tatsachen nehmen Männer seltener psychosoziale Unterstützung in Anspruch.

Die psychosozialen Berater der Bielefelder man-o-mann Männerberatung bestätigen das: “Nach einigen Jahren Beratungsarbeit fiel uns auf, dass uns sehr wenige Männer aufsuchten. Sie kamen nur bei massivsten psychosomatischen Beschwerden, bei Selbstmordgefahr, in Begleitung ihrer Partnerinnen (bei Paartherapien) oder aber geschickt durch ihre Partnerinnen (‘Wenn Du nicht Therapie machst, trenne ich mich von Dir!’).”

Was ist los mit den Männern?

Die Stiftung Männergesundheit führt an, ungefähr die Hälfte der jungen Männer hingen “noch einem traditionell ‘hegemonialen’ Bild des ‘starken, unverletzlichen Mannes’ an, der nicht über seine Gesundheit reflektieren kann und muss.” Sind das am Ende gar die gleichen Männer, die es laut der Studie von Plan International “Spannungsfeld Männlichkeit” okay finden, wenn einem Mann die Hand mal gegenüber einer Frau ausrutscht? Prof. Dr. Anne Maria Möller-Leimkühler, Professorin für Sozialwissenschaftliche Psychiatrie an der Medizinischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität in München, hält diesen Schluss für eindimensional und wenig hilfreich (s. Kommentar Stiftung Männergesundheit). “Zugang zu ihren Emotionen zu finden, fällt Männern schwerer, weil ihr Gehirn biologisch anders ‘verdrahtet‘ ist und weil sie gelernt haben, dass Gefühle auszudrücken, eher mit dem weiblichen als mit dem männlichen Geschlecht verbunden ist. Deshalb reagieren sie emotionalen Stress eher über den Körper und das Verhalten nach außen ab – nach dem Prinzip „außen Action, innen Konflikt“. (Kamphausen Media)

Prof. Möller-Leimkühler beschreibt, dass sich das Leiden unter Depressionen bei Männern ganz anders äußert als bei Frauen, z.B. durch aggressives Verhalten oder in der Entwicklung einer Sucht. Das kann sich genauso auf die Arbeit wie auch auf die Nutzung des Internets beziehen. Bei manchen Männern ist exzessive sportliche Betätigung ein Ausdruck. Und leider wird oft versucht, mit dem Griff zur Flasche den Therapeuten zu ersetzen, was nicht zuletzt zu riskantem Verhalten führen kann. Männer versuchen, die “männliche Fassade aufrechtzuerhalten. Dahinter steckt die Angst, von anderen als unmännlich und psychisch krank wahrgenommen zu werden, was Männer traditionell als Schwäche empfinden.“ (ebd.)

Am Ende landen wir bei patriarchalen Strukturen, die uns alle prägen und die wir weitergeben, ohne uns dessen immer so bewusst zu sein.

Unlearn Männlichkeit

Wenn ein Großteil der Männer es unangenehm findet, über eigene Gefühle zu sprechen, psychische Probleme und Belastungen lieber aussitzt, verdrängt und ignoriert, müssen wir uns nicht wundern, dass wir in den letzten beiden Jahren extrem wenige Männer mit unserem Wellbeing Programm ansprechen konnten. Nun finden wir aber, dass es für Männer gerade wichtig wäre, den Selbstkontakt zu stärken und damit präventiv psychischen Problemen vorzubeugen. Und im zweiten Schritt würde auch das gemeinsame Wirken mit anderen Menschen in allen Lebensbereichen davon profitieren.

Man könnte ja meinen, dass Männer – noch immer in die Rolle des Ernährers hinein sozialisiert – ein besonderes Interesse daran haben müssten, die Grundlagen für die eigene Resilienz und eine gute Zusammenarbeit mit anderen zu schaffen. Und es gibt sie ja auch, die andere Hälfte, die in den Statistiken angibt, sich zu öffnen für Emotionen, Empathie, soziale Verantwortung und Selbstkritik und eine sensible Wahrnehmung von und Auseinandersetzung mit gesundheitlichen Problemen zuzulassen. Nicht dass wir dieses Klischee vom Mann, der das Geld nach Hause trägt, nähren wollten. Ganz im Gegenteil: In der Arbeitswelt der Zukunft wünschen wir uns, dass Geschlecht keine Rolle spielt. Vielmehr kommt es darauf an, dass jeder Mensch seine eigenen Potenziale entfaltet und gut mit anderen zusammen wirken kann.

In der kommenden Woche finden unsere Design Sprints statt, zu denen wir explizit Männer eingeladen haben, um gemeinsam mit ihnen herauszufinden, was sie brauchen, um sich tiefergehend mit Wellbeing und Kollaboration zu beschäftigen. Wir sind sehr gespannt, besteht unser Team, das die Programme gestaltet und durchführt, doch (wen wundert’s) überwiegend aus Frauen.

Außerdem geht es in unserer co:lab X Reihe weiter mit einem Abend zu Kollaboration unter dem Gesichtspunkt kritischer Männlichkeit. Wir freuen uns, am 8. August um 18 Uhr den Männerforscher, Berater und Dozenten Christoph May bei uns zu haben, der Co-Gründer des Instituts für Kritische Männlichkeitsforschung ist. Du bist herzlich eingeladen.

Da in diesem Artikel das Thema Suizid angesprochen wurde, ein paar Hinweise zur Hilfe bei Suizid-Gedanken:

Wenn es dir nicht gut geht oder du daran denkst, dir das Leben zu nehmen, versuche, mit anderen Menschen darüber zu sprechen. Das können Freunde oder Verwandte sein, es gibt aber auch Hilfsangebote. Die Telefonseelsorge ist anonym, kostenlos und rund um die Uhr unter 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222 erreichbar. Es gibt auch die Möglichkeit einer E-Mail-Beratung oder eines Hilfe-Chats. Weitere Informationen findest du bei der Telefonseelsorge.

Es gibt außerdem explizit für Männer Beratung. Die richtigen Links findest du beim Männerberatungsnetz.

Dieser Artikel wurde im Rahmen des Programms betterplace well:being verfasst. Das Programm wird unterstützt durch die BKK∙VBU, pronova BKK und Salus BKK.

Titelfoto: jose pena | Unsplash

Unser Podcast

Die erste Folge in der Resilienz-Reihe