9. Juni 2022 - Beim Betreten der Arena, wo die re:publica dieses Jahr stattfindet, laufe ich Shirley Inafa und Marlene Ulrich von den Neuen Deutschen Medienmacher*innen sowie Sebastian Schneider und Bernd Zywietz von Jugendschutz.net in die Arme, denn sie stehen quasi direkt hinterm Eingang mit ihrem Stand des Kompetenznetzwerkes gegen Hass im Netz (nachfolgend KPN abgekürzt). Der Stand ist der erste gemeinsame öffentliche Auftritt seit das KPN im Dezember 2021 mit dem Zweck gelauncht wurde, eine zentrale Anlaufstelle zu werden für alle, die sich über Hass im Netz und Gegenstrategien informieren wollen, Hilfe suchen, sich engagieren, Orientierung brauchen, darüber berichten oder sich weiterbilden wollen.
Neben den beiden genannten Organisationen sind HateAid und Das NETTZ Teil eines Clusters im betterplace co:lab Programm. Dieses Cluster ist ein besonderer Fall innerhalb des Kollaborationsprogrammes, denn das betterplace lab ist dem Kompetenznetzwerk insofern besonders verbunden, als das es von unseren beiden inzwischen ehemaligen betterplace lab-Kolleg*innen Hanna Gleiss und Nadine Brömme (jetzt Geschäftsführer*innen von Das NETTZ gGmbH) konzipiert und vorangetrieben wurde. Die Vorteile kollaborativer Zusammenarbeit gegenüber einer Kooperation sind sozusagen in der DNA von Das NETTZ angelegt und so war es für die beiden ein naheliegender Schritt, mit den Vertreter*innen des KPN die kompetenzvermittelnde Workshopreihe zu durchlaufen und mit der Unterstützung eines Coaches die Zusammenarbeit zu starten. Das hört sich gut an, ist aber auch mit Anstrengungen verbunden.
Eine Herausforderung ist es, dass viele zivilgesellschaftliche Organisationen eigentlich kaum Ressourcen für die Zusammenarbeit mit anderen haben. Auch wir alle mussten erst verstehen, dass es sich hier um sinnvoll investierte Zeit handelt, die unsere Arbeit über einen längeren Zeitraum effektiver macht.
Zeit ist auch bei dieser ersten analogen re:publica seit Pandemiebeginn ein wertvolles Gut. Am Stand des KPN sind die Vertreter*innen von HateAid und Das NETTZ ins Gespräch mit dem Bundesminister für Digitales und Verkehr, Herrn Wissing, vertieft. Ich nutze die Chance und ziehe mich mit den vier freien Vertreter*innen von NDM und Jugendschutz.net an einen halbwegs ruhigen Ort auf dem Gelände zurück, um ihnen ein paar Fragen zu stellen, denn ich bin neugierig, wie die Kollaboration des Clusters angelaufen ist.
Ganzheitliche Strategien für einen demokratischen Diskurs
Auf der Webseite des KPN wird angegeben, dass die vier etablierten Organisationen ihre Kräfte gegen Hass im Netz bündeln, Austausch ermöglichen und ganzheitliche Strategien für einen demokratischen Diskurs entwickeln wollen. Wie in dem Zusammenhang ganzheitlich zu verstehen ist, frage ich die Vertreter*innen.
Auf der einen Seite gehe es darum, die Thematik in all ihren Facetten zu betrachten, verschiedene Perspektiven einzubeziehen. Darüber hinaus biete sich ein ganzheitlicher Ansatz auch bei der Entwicklung der Strategien für die unterschiedlichen Akteur*innen an. Wenn Bernd Zywietz von jugendschutz.net den Blick auf die Betroffenen oder die involvierten Gruppen beschreibt, dann stellt er fest, dass das im Bereich Jugendmedienschutz Kinder und Jugendliche sind, "die sowohl betroffen sind, als auch unbewusst zu Täter*innen werden können." Er deutet mit den Händen Anführungszeichen an, als er das Wort Täter*innen ausspricht und erklärt, dass auch Inhalte einfach weitergegeben werden, weil die Kinder und Jugendlichen sie nicht richtig einordnen können und so z.B. Hasspostings oder verletzende Memes weiter verbreiten.
Die Neue Deutsche Medienmacherin Shirley Inafa macht an einem Beispiel konkret, was Diversität mitdenken bedeuten kann: "Da ist natürlich die unterschiedliche Art von Betroffenheit im Netz auch ein Thema. Wenn zum Beispiel eine Person Hass im Internet erfährt, dann könnte man sagen: ‘Du kannst zur Polizei gehen und das zur Anzeige bringen.’ Bei einer Person, die Erfahrungen mit Anti-Schwarzen-Rassismus gemacht hat, muss ich bedenken, dass die Polizei eventuell nicht eine Institution ist, die vertrauenswürdig für die Person ist. Deswegen glaube ich, ganzheitlich bedeutet auch, dass wir in unseren Lösungen und in dem, was wir entwickeln, unterschiedliche Perspektiven einbeziehen müssen."
Die Organisationen, die sich zusammengetan haben, nehmen nicht nur die Inhalte in den Blick, die Hass enthalten und diejenigen, die sie verbreiten. Ebenso im Fokus stehen die Anbieter und das, was sie gegen Hass auf ihren Plattformen unternehmen.
Die Thematik Hass im Netz ist so vielfältig, dass nicht eine Organisation mit einem Schwerpunkt dem alleine gerecht werden kann. Die vier Organisationen bringen alle unterschiedliche Kompetenzen mit. HateAid kümmert sich um die Betreuung von Betroffenen. Das NETTZ kümmert sich um die Vernetzung von zivilgesellschaftlichen Organisationen im Feld. Und die Neuen deutschen Medienmacher*innen bringen den journalistischen Background mit. Mit uns als Recherche-Monitoring-Organisation kombinieren wir im Kompetenznetzwerk diese verschiedenen Aspekte und entwickeln Strategien, mit denen man Hass im Netz eindämmen kann.
Kollaboration im Kompetenznetzwerk – wie geht das?
Der von Coach Hanno Burmester begleitete Kollaborationsprozess ist bereits fortgeschritten. Ich habe mich ein bisschen schlau gemacht über die Schritte, die die vier Organisationen bisher gemacht haben und bin gespannt, wie die Vertreter*innen heute über Kollaboration sprechen, was sie unter dem Begriff fassen.
Für mich bedeutet kollaborativ zusammenarbeiten, dass wir gemeinsam an etwas arbeiten und auch ein gemeinsames Ziel im Auge haben. Was auch bedeutet, dass alle Stimmen, alle Perspektiven, alle Kompetenzen gleichermaßen gehört und mitgedacht werden. Und dass wir auch Dinge ausdiskutieren. Ich glaube, hier sind wir sehr gleichberechtigte Partner*innen, die gleichermaßen an diesem Prozess teilhaben wollen und sollen.
Shirley Inafas Kollegin Marlene Ulrich fügt an, dass es ein sinnvolles Ziel sei, eine Anlaufstelle zu werden, in der die Organisationen mit ihren "unterschiedlichen Expertisen nebeneinander existieren, anstatt zu einer Super-Expertise zu fusionieren." Sie seien jeweils Expert*innen für die Zielgruppen, weil sie seit Jahren in ihrem jeweiligen Feld aktiv sind.
Aber wir können auch voneinander lernen, wir müssen das Aushandeln lernen.
Bernd Zywietz hebt hervor, dass die Organisationen im Kompetenz-Netzwerk nicht ausschließlich kollaborieren und es aufgrund der unterschiedlichen Ansätze und Aufgaben manchmal zweckmäßig ist, zu kooperieren. „Nichtsdestotrotz haben wir einen gemeinsamen Kern, den wir kollaborativ bearbeiten.“, stellt er fest und kommt direkt auf das co:lab Programm zu sprechen. Es sei sehr gut, die Workshops/das Programm zu haben, um auch die Perspektivenübernahme zu lernen, mit den jeweiligen Zielen, aber auch Bedingungen, unter denen die Organisationen jeweils arbeiten. Da gelte es, besondere Möglichkeiten, die Einzelne haben, zu erkennen, aber auch besondere Einschränkungen zu berücksichtigen und Zielstellungen, die von außen gesetzt sind.
Wir geben nicht unsere Identität auf als Einzelne in diesem Netzwerk. Und da lehrt das Programm, wie man sich aufeinander abstimmt und eine gewisse Perspektivenübernahme realisiert im Zuge der konkreten Arbeit. So dass man sich nicht nur gewisse Strukturen erarbeitet, wie man kollaborativ zusammenarbeitet, sondern auch, wie man eine Art kollaboratives Denken zu realisieren versucht, ohne seinen eigenen Kern aufzugeben.
Sein Kollege Sebastian Schneider ist überzeugt, dass durch die Multiperspektivität im gemeinsamen Entwickeln von Zielen und Maßnahmen von Anfang an Lücken erkannt werden können.
Wenn viele Perspektiven auf dieselbe Thematik/Problematik blicken, entstehen rundere Ansätze, können rundere Lösungswege gefunden werden.
Er berichtet davon, dass parallel zum Erarbeiten des gemeinsamen Verständnisses von Kollaboration verschiedene Projekte im Raum stünden, die peu à peu entwickelt und im Laufe dieses Jahres in die Tat umgesetzt werden: "Das heißt, wir fahren sozusagen zweigleisig. Auf der einen Seite gibt es schon gewisse Vorstellungen, gibt es gewisse Projekte, die realisiert werden wollen – wie das aber genau kollaborativ realisiert wird – das ist noch im Entstehen.”
Bernd Zywietz fügt an, durch die Workshops gleich einen guten Reflexionsprozess zu haben, sodass man Dinge nicht im luftleeren Raum am Anfang plane, sondern immer konkret an der Arbeit, die schon getan ist oder die direkt vor ihnen liegt, sodass sich ein iterativer Prozess ergibt.
Lohnt es sich, die Zeit zu nehmen?
Ich bin sehr froh, dass ich die Vier für ein paar Minuten von ihrem Stand weglocken konnte, denn sie haben dort gut zu tun. Viele Gespräche mit Interessierten, moderierte Talk-Runden und Panels stehen auf dem Plan. Wer in NGOs arbeitet, investiert zumeist überproportional viel Zeit, oft auch Freizeit in den Job. Braucht man da noch lauter Workshops zusätzlich? Shirley Inafa findet, dass grundsätzlich immer – in allen Prozessen, wo unterschiedliche Träger*innen/Partner*innen zusammenkommen – Teambuilding-Maßnahmen total wichtig seien, um abzustecken: Wie arbeiten wir eigentlich miteinander? Wie kommen wir eigentlich zu einem Ziel? Sie findet das auch wichtig, um sich auf einer niedrigschwelligen Ebene kennenzulernen.
Was uns sehr viel umtreibt, ist, dass wir den Anspruch haben, danach mit etwas rauszugehen, ein Ergebnis zu haben und in eine Produktivität zu kommen. Wir wollen aus diesen Workshops rauskommen mit dem Gefühl: Wir sind jetzt ein Stück weiter gekommen. Und solange das gegeben ist, fühlt sich auf jeden Fall eine Zeitinvestition immer gut an!
Auch die Zeit auf der re:publica wurde sinnvoll investiert, denn der Stand des Kompetenznetzwerks ist sehr gut besucht. Eine Fishbowl-Diskussion organisiert das Konsortium zum Thema “Staatliche Regulierung vs. Anonymität - was hilft (nicht) gegen Hass im Netz?” und einige der Vertreter*innen sind auf verschiedenen Panels zu erleben.
Das Programm betterplace co:lab ist ein Projekt des betterplace lab und wird gefördert durch Luminate und die Schöpflin Stiftung.