Mehr vom Alten, oder was Neues wagen?

Foto: Daniel von Appen | Unsplash

Wie wir produktiv mit Veränderungen umgehen können, die sich unser Kontrolle entziehen.

Es ist so, als hätten wir zur Mittagszeit im vollbesetzten Speisewagen gesessen, als uns die volle Wucht einer Vollbremsung aus den Sitzen hebt. Wie in Zeitlupe versuchen wir dem Bier aus dem Glas auszuweichen und das ein oder andere Gulaschstück abzufangen – Messer und Gabel stecken schon in der Wand. Und als wir wieder zu uns kommen, da schauen wir verwundert auf die Welt da draußen, die so anders ist, als sonst.

So beschrieb ein Freund die Situation, in der sich Deutschland und der Rest der Welt im Zuge der Corona Pandemie im März 2020 wiederfindet.

Wir gehören zu den Menschen, die sich seit langem wünschen, das sich dieses Land und, ja, die ganze Welt grundsätzlich verändern. Wir wünschen uns eine Wirtschaft, die unsere planetarischen Grenzen respektiert und eine Politik, die sich für gerechtere soziale Systeme einsetzt. Wir wünschen uns weniger „höher, schneller, größer“ und mehr „tiefer, bewusster, qualitativ besser“.

Jetzt ist unser altes System abrupt zum Stillstand gekommen. Und wir stellen fest, dass es gar nicht so einfach ist, mit dieser Veränderung umzugehen. Denn wir haben sie nicht gewählt und wissen nicht was kommt. Wie viel lieber hätten wir einen gut ausgearbeiteten Transformationsplan, an dem wir uns abarbeiten könnten! Schritt für Schritt, den Umbau unseres Energiesystems, des Gesundheitswesens, der Mobilität, der Grundsicherung für Bürger und vieles mehr gestalten ... Aber nein, wir stehen vor einem Veränderungsprozess mit unbekanntem Verlauf und Ausgang.

Unser Körper kommt mit Veränderung viel besser klar als unser Verstand

Das macht Angst. Diese Angst entsteht zuerst im Verstand. Interessanterweise erzählen Körpertherapeuten, dass unser Körper mit Wandel eigentlich gut und intuitiv klar kommt (solange er nicht stark traumatisiert ist). Widerstand gegen Neues findet demnach vor allem im Verstand statt. Der versucht das Unbekannte einzuordnen und zu kontrollieren.

Unser Verstand will Sicherheit und die stellt er her, indem er versucht das Unbekannte in bekannte Kategorien zu zwängen. In Zeiten der Unruhe oder gar des Chaos versuchen wir Ordnung über feste Strukturen herzustellen, indem wir Regeln befolgen und uns sozial konform verhalten; äußeren Erwartungen entsprechen, Leistung zeigen, Konsens erzeugen.

Jeder von uns hat seine eigenen Mechanismen, um sich psychologisch zu stabilisieren. Aber für die meisten von uns gibt es bestimmte Gewohnheiten, Rituale und Traditionen, die uns ein Gefühl von Kontrolle und Planbarkeit suggerieren. Diese Kontrolle, zu einem gewissen Grad immer fiktiv, entlarvt sich in der gegenwärtigen Krise als besonders fragil.

Wie reagieren wir auf den Kontrollverlust?

An uns selbst und aus Gesprächen mit unseren Kollegen im Home Office sehen wir, das viele versuchen genauso weiter zu machen wie bisher. Nur halt von Zuhause aus, ggf. mit zankenden Kindern und angespannten Partnern im Hintergrund. Viele scheinen sogar noch einen Zahn zuzulegen, arbeiten noch mehr, noch schneller, noch angestrengter. Bettina erzählt, wie sie täglich neun Stunden auf Zoom verbringt, ich arbeite manchmal an zwei Rechnern und dem Handy parallel. Abends brummt uns der Kopf, denn vor dem Bildschirm vergessen wir nur zu leicht, dass wir auch einen Körper haben.

Wenn wir in Krisenzeiten auf Vertrautes zurückgreifen, können wir uns darüber zwar stabilisieren, wir verpassen aber womöglich auch ein Update. Zu viel Routine führt nämlich nicht nur dazu, dass wir uns langweilen, sie nimmt uns auch die Chance uns neu auf das Leben zu beziehen, neue Erfahrungen zu machen und neue Kompetenzen zu entwickeln.

Eine gesunde Balance zwischen Sicherheit und Freiheit

Unser individueller Lebensweg pendelt seit der Geburt zwischen den Polen Sicherheit/Zugehörigkeit und Wandel/Wachstum. Eine stimmige Balance zwischen beiden Bewegungen ist für unsere Gesundheit wichtig.

Wir alle kennen das: kleine Kinder laufen sicher an der Hand ihrer Eltern, lösen sich dann von ihnen, um alleine Neues in der Umgebung zu erkunden, und kehren dann wieder zu den Eltern zurück. Diese Bewegung begleitet uns bis ins hohe Erwachsenenalter. Peu a peu verändern wir uns dadurch, erweitern unseren Radius, können mehr Vielfalt und Komplexität in unserem Inneren abbilden.

Jeder kennt diese Momente der Veränderung: noch war man ganz zufrieden mit dem Status quo, aber plötzlich wird der langweilig. Meist fangen wir dann an, etwas in unserem äußeren Leben zu verändern: wir kaufen neue Klamotten, gehen auf Reisen, versuchen unseren Partner zu verändern oder beschäftigen uns mit neuen Organisationsmodellen fürs Unternehmen.

Uns als Person zu verändern - etwa alte Glaubensätze gehen zu lassen, neue Werte und Präferenzen zu entdecken und auch neue Kompetenzen zu erlernen und Verhaltensweisen auszuprobieren, ist dann häufig erst der zweite Schritt. Meist machen wir den erst dann, wenn die Veränderungen im Außen nicht die erhoffte Zufriedenheit gebracht haben.

In der Krise lösen sich alte Strukturen auf und wir verlieren an Sicherheit

Was aber, wenn der Veränderungsimpuls nicht aus mir selbst heraus kommt, sondern mir durch die äußeren Umstände aufgezwungen wird? Momentan lösen sich viele äußere Strukturen auf – nicht nur Aktienmärkte, sondern auch der gewohnte Tagesablauf und Büroalltag. Die Welt wird dadurch unsicherer. Das stellt uns vor zwei Optionen: entweder stabilisiere ich mich durch noch mehr Routine, Arbeit und Geschäftigkeit.

Oder aber, ich entscheide mich dafür, das Neue, Unbekannte, und ja auch Angsteinflößende bewusst zu spüren und nutze die Krise mich selbst besser kennenzulernen und neue, innovative Verhaltensweisen zu entwickeln.

Ich kann mir Fragen stellen wie diese: Wer bin ich in dieser Ausnahmesituation? Wie reagiere ich auf die Krise? Welche Automatismen setzen ein? Wo fühle ich mich sicher, wo kann ich mich entspannen? Wann gehe ich unangenehmen Gefühlen aus dem Weg? Was braucht mein Körper?

Diese grundlegenden Reflexionen kann ich dann auf meinen Arbeitsalltag übertragen. Statt mechanisch so weiterzuarbeiten wie bisher, kann ich kurz innehalten und bewusste Intentionen setzen: Wie will ich den Tag im Home Office gestalten? Wie viel Stunden möchte ich vor dem Rechner verbringen? Wie sehen meine Pausen aus?

Erst aus einer gewissen Distanz kann ich neue kreative Praktiken entwickeln, die mir in dieser ganz neuen Situation gut tun. Vielleicht fange ich an, bestimmte Telefonate mit einem Spaziergang zu verbinden, lege alle 52 Minuten eine kleine Hula-Hoop-Pause ein oder treffe mich zur Feierabend-Meditation mit Kollegen auf Zoom.

Wir haben die Wahl

Corona stellt uns vor die Wahl: wir können in der Krise unsere alten Gewohnheiten beibehalten, ja sogar noch verstärken. Dann fühlen wir uns vielleicht halbwegs stabil. Aber alles bleibt, bestenfalls, beim Alten. Diese Option ist nicht sehr cool, wenn man bedenkt, dass der status quo ante aus einem System bestand, welches für eine vergangene Welt entwickelt worden war und den heutigen Realitäten schon längst nicht mehr gerecht wird.

Oder aber wir nutzen die ungewohnten Freiräume um in uns hineinzuhorchen und neue Räume auszuloten. Das birgt das hohe Risiko, mit unangenehmen Gefühlen und Empfindungen konfrontiert zu werden. Aber eben auch die Chance ganz neue Facetten von sich selbst und der Welt zu erobern.

Einer neuen Welt neu zu begegnen.

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Joana Breidenbach, Bettina Rollow, Rivka Halbershtadt

Unser Podcast

Die erste Folge in der Resilienz-Reihe