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Wie wir produktiv mit Veränderungen umgehen können, die sich unser Kontrolle entziehen.
Es ist so, als hätten wir zur Mittagszeit im vollbesetzten Speisewagen gesessen, als uns die volle Wucht einer Vollbremsung aus den Sitzen hebt. Wie in Zeitlupe versuchen wir dem Bier aus dem Glas auszuweichen und das ein oder andere Gulaschstück abzufangen – Messer und Gabel stecken schon in der Wand. Und als wir wieder zu uns kommen, da schauen wir verwundert auf die Welt da draußen, die so anders ist, als sonst.
So beschrieb ein Freund die Situation, in der sich Deutschland und der Rest der Welt im Zuge der Corona Pandemie im März 2020 wiederfindet.
Wir gehören zu den Menschen, die sich seit langem wünschen, das sich dieses Land und, ja, die ganze Welt grundsätzlich verändern. Wir wünschen uns eine Wirtschaft, die unsere planetarischen Grenzen respektiert und eine Politik, die sich für gerechtere soziale Systeme einsetzt. Wir wünschen uns weniger „höher, schneller, größer“ und mehr „tiefer, bewusster, qualitativ besser“.
Jetzt ist unser altes System abrupt zum Stillstand gekommen. Und wir stellen fest, dass es gar nicht so einfach ist, mit dieser Veränderung umzugehen. Denn wir haben sie nicht gewählt und wissen nicht was kommt. Wie viel lieber hätten wir einen gut ausgearbeiteten Transformationsplan, an dem wir uns abarbeiten könnten! Schritt für Schritt, den Umbau unseres Energiesystems, des Gesundheitswesens, der Mobilität, der Grundsicherung für Bürger und vieles mehr gestalten ... Aber nein, wir stehen vor einem Veränderungsprozess mit unbekanntem Verlauf und Ausgang.
Unser Körper kommt mit Veränderung viel besser klar als unser Verstand
Das macht Angst. Diese Angst entsteht zuerst im Verstand. Interessanterweise erzählen Körpertherapeuten, dass unser Körper mit Wandel eigentlich gut und intuitiv klar kommt (solange er nicht stark traumatisiert ist). Widerstand gegen Neues findet demnach vor allem im Verstand statt. Der versucht das Unbekannte einzuordnen und zu kontrollieren.
Unser Verstand will Sicherheit und die stellt er her, indem er versucht das Unbekannte in bekannte Kategorien zu zwängen. In Zeiten der Unruhe oder gar des Chaos versuchen wir Ordnung über feste Strukturen herzustellen, indem wir Regeln befolgen und uns sozial konform verhalten; äußeren Erwartungen entsprechen, Leistung zeigen, Konsens erzeugen.
Jeder von uns hat seine eigenen Mechanismen, um sich psychologisch zu stabilisieren. Aber für die meisten von uns gibt es bestimmte Gewohnheiten, Rituale und Traditionen, die uns ein Gefühl von Kontrolle und Planbarkeit suggerieren. Diese Kontrolle, zu einem gewissen Grad immer fiktiv, entlarvt sich in der gegenwärtigen Krise als besonders fragil.
Wie reagieren wir auf den Kontrollverlust?
An uns selbst und aus Gesprächen mit unseren Kollegen im Home Office sehen wir, das viele versuchen genauso weiter zu machen wie bisher. Nur halt von Zuhause aus, ggf. mit zankenden Kindern und angespannten Partnern im Hintergrund. Viele scheinen sogar noch einen Zahn zuzulegen, arbeiten noch mehr, noch schneller, noch angestrengter. Bettina erzählt, wie sie täglich neun Stunden auf Zoom verbringt, ich arbeite manchmal an zwei Rechnern und dem Handy parallel. Abends brummt uns der Kopf, denn vor dem Bildschirm vergessen wir nur zu leicht, dass wir auch einen Körper haben.
Wenn wir in Krisenzeiten auf Vertrautes zurückgreifen, können wir uns darüber zwar stabilisieren, wir verpassen aber womöglich auch ein Update. Zu viel Routine führt nämlich nicht nur dazu, dass wir uns langweilen, sie nimmt uns auch die Chance uns neu auf das Leben zu beziehen, neue Erfahrungen zu machen und neue Kompetenzen zu entwickeln.
Eine gesunde Balance zwischen Sicherheit und Freiheit
Unser individueller Lebensweg pendelt seit der Geburt zwischen den Polen Sicherheit/Zugehörigkeit und Wandel/Wachstum. Eine stimmige Balance zwischen beiden Bewegungen ist für unsere Gesundheit wichtig.