Soziale Gerechtigkeit in der digitalen (Des-)Informationsgesellschaft

Aufgrund der Verunsicherung in Zeiten multipler Krisen und Konflikte fällt die Ideologie der Ungleichwertigkeit auf fruchtbaren Boden. Diese Ideologie umfasst jene abwertenden und ausgrenzenden Einstellungen gegenüber als “anders”, “fremd” und “unnormal” markierten Menschengruppen. Desinformationen spielen in der Verbreitung gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit eine zentrale Rolle. Sie zielen auf die Delegitimierung von Akteur*innen und Institutionen ab, die sich für soziale Gerechtigkeit einsetzen.

Da war sie zuletzt wieder, so eine Falschbehauptung, die für Verwirrung sorgte, weil sie offensichtlich nicht der Realität entspricht. Der Vorsitzende der nach Umfragen aktuell stärksten Partei Deutschlands polemisierte in einer Politsendung zur besten Sendezeit, dass die “deutschen Bürger” keinen Zahnarzttermin mehr bekämen. Nicht aufgrund struktureller Probleme in der Gesundheitsversorgung, sondern weil sich ausreisepflichtige Asylbewerber*innen auf Staatskosten die Zähne machen ließen. Dramatisierung, Umkehrung und Lüge sind zwar politische Kniffe, derer sich auch dieser Oppositionspolitiker bedient, aber es sind denkbar schlechte für einen demokratischen Diskurs, der laut einer neuen Studie zu demokratiegefährdenden Einstellungen in Deutschland, ohnehin weiter ins Rutschen kommt. Faktenchecks, Asylrechtsexpert*innen und Zahnarztverbände versuchten die Falschaussage als solche zu entlarven und richtig zu stellen. Gleichzeitig beschloss die amtierende Regierung kurzerhand weitreichende Kürzungen im sozialen Sektor – darunter jene Etats zivilgesellschaftlicher Akteur*innen, die soziale Teilhabe ermöglichen, psychosoziale Betreuung traumatisierter Geflüchteter anbieten und Freiwilligendienste sowie Jugendmigrationsdienste fördern. Es lohnt, das Thema Desinformation in Verbindung mit sozialer Gerechtigkeit näher zu betrachten, denn sie ist oft erst auf den zweiten Blick zu erkennen.

Wissen, gefühlte Wahrheit, Desinformation

Unsere Einstellungen und Glaubenssätze begründen unsere Handlungen (und andersherum). Denn das, was wir tun, versuchen wir in Einklang zu bringen mit dem, was wir für gerechtfertigt und gerecht halten: Glauben wir daran, dass Deutschland eine plurale (Einwanderungs-)Gesellschaft ist oder nicht? Dass der Klimawandel menschengemacht ist oder nicht? Ob das Virus in der Pandemie die Gefahr darstellt oder nicht? Dann heißt es: Grenze dicht oder nicht, Kohlekraftwerke ja oder nein, Maske auf oder weg. Ungleichheit können wir messen und belegen, soziale Gerechtigkeit ist eine subjektive Empfindung – wir fühlen sie oder nicht. Das, was wir glauben zu wissen, informiert unseren Blick auf die Welt, die Wahrnehmung, Empfindung und Richtung unserer Empathie. Auf diesen Dimensionen wirken Desinformationskampagnen, indem sie ihren Adressat*innen eine eigene konstruierte Wahrheit anbieten.

Ob es sich um gezielte Desinformation oder unbeabsichtigte Misinformation handelt, lässt sich nicht immer bestimmen, genauso wenig, wie sich immer ein Vorsatz nachweisen ließe. Dass Desinformationen eine starke Verbreitung finden, hat mit dem Gerechtigkeitsempfinden derer zu tun, die sie ansprechen. Ideen von Gerechtigkeit, denen wir anhängen, werden von unserer subjektiven Position im gesellschaftlichen Gefüge und den Erfahrungen im sozialen Umgang in unserem Alltag geformt.

Ebenso nehmen gesellschaftliche Debatten und Diskurse Einfluss. Die zur Ideologie gewordenen Erzählungen der Leistungsgesellschaft, das Hohelied meritokratischer Prinzipien und die medialen Inszenierungen von Armut und sozialer Hängematte verfremden die existierende soziale Ungleichheit und rechtfertigen sie zugleich. Sie verhindern Empathie mit von Armut Betroffenen und verkennen die Mechanismen dahinter. Vor diesem Hintergrund finden Desinformationen Gehör und tragen zur Mythenbildung bei. Hier stellen wir drei Strategien vor, mit denen Akteur*innen die Verbreitung von Desinformationen im Feld der sozialen Gerechtigkeit vorantreiben.

Vereinfachung: Lohnt die Arbeit in Zeiten des Bürgergelds noch?

Mit der Einführung des Bürgergelds zirkulieren seit Frühjahr 2023 zahlreiche Grafiken und Rechenbeispiele in den sozialen Medien. Sie stricken das Narrativ, dass sich selbst Vollzeit-Lohnarbeit aus finanzieller Sicht gar nicht mehr rechne, denn am Ende verdiene man weniger als beim Bezug des Bürgergelds. Einem Faktencheck halten die Berechnungen nicht stand, da sie alleine schon an der komplexen Realität des Lohn- und Steuerrechts scheitern. Diese visuellen Falschinformationen ermöglichen es, sich über das vermeintlich ökonomische Kalkül der Bürgergeld-Bezieher*innen zu empören und den Blick von prekären Beschäftigungs- und Lohnverhältnissen im Arbeitsmarkt abzuwenden. Dadurch werden zugleich die Mechanismen von Armut und Arbeitslosigkeit und ihre vielfältigen sozialen, psychologischen und gesellschaftlichen Folgen ausgeklammert.

Falsche Dichotomie: Obdachlosigkeit durch Familiennachzug?

“Die Regierung plant den Familiennachzug Geflüchteter, obwohl es über 400.000 Deutsche Obdachlose gibt.” Diese Nachricht zirkulierte in sozialen Netzwerken, dabei stellte sie einen falschen Zusammenhang her, der eine emotionale Reaktion hervorrufen sollte. Zum einen muss in Fällen des Familiennachzugs der Lebensunterhalt gewährleistet sein, was bei Wohnungslosen nicht der Fall ist. Zum anderen führen Expert*innen Wohnungs- und Obdachlosigkeit auf das Fehlen von bezahlbarem Wohnraum zurück. Es gibt vielfältige Ursachen, warum Menschen obdachlos werden. Der Familiennachzug Geflüchteter ist jedenfalls keine Ursache dafür! (Zumal es gerade Geflüchtete sind, die die am stärksten von Obdachlosigkeit gefährdete soziale Gruppe sind.)

Fehlendes Maß: Wie Sozialbetrug und Steuerhinterziehung zusammenhängen

Fragen um Leistungs- und Steuergerechtigkeit in Deutschland sind heiß diskutiert. Doch wie breit und öffentlichkeitswirksam bestimmte Themen besprochen werden, hat teils eher mit emotionaler Zugänglichkeit als mit realitätsbezogener Ausgewogenheit zu tun. In politischen Debatten und im öffentlichen Meinungsaustausch kommen Schlagworten wie “Sozialtourismus” und “Asylbetrug” ein hohes Maß an Aufmerksamkeit zu. Durch Politik und Öffentlichkeit werden Armut und Kriminalität besonders häufig in Verbindung gebracht, ohne dass wissenschaftliche Befunde diesen herausgehobenen Zusammenhang bestätigen. Dieser Umgang mit Blick auf Armut hat Geschichte. Vermeintlich organisierte Gruppen von Bettler*innen und Fälle von Sozialbetrug eignen sich gut zum Spinnen politischer Kampagnen.

Die medialen Darstellungen von armutsbezogener Kriminalität gegenüber komplexen organisierten Strukturen sind höchst ungleich. Das gilt für Nachrichten, Film und Fernsehen ebenso wie für die sozialen Medien. Aufgrund der Mechanismen der Plattformökonomien finden gerade einseitige und eingängige Erzählungen in Form von Bedrohungsszenarien rasche Verbreitung. Sie taugen besonders zur Projektionsfläche für Angst und Unmut.
Weniger Emotionalität erregen dagegen Fälle von Steuerhinterziehung, seien es jene prominenter Stars oder solche komplexen Machenschaften wie bei den Cum-Ex/Cum-Cum-Geschäften. Zwar liegen die volkswirtschaftlichen (und sozialen) Schäden von Steuerhinterziehungen um ein Vielfaches über denen des Sozialbetrugs. Systemische Ungerechtigkeiten werden durch diese unterschiedliche Aufmerksamkeit legitimiert und verfestigt.

Gerade wenn es um soziale Gerechtigkeit und Armutsfragen geht, gestaltet es sich schwierig, Desinformation als solche zu erkennen. Strukturelle Ausschlüsse und systemische Ungerechtigkeit aufgrund ökonomischer Kriterien und Klassismus sind Teil der Funktionierens unserer derzeitigen Gesellschaft. Die Mythen, deren Bildung sie begünstigen, sind tief in der Gesellschaft und im Alltag verankert. Sie artikulieren sich oft mit und über andere Diskriminierungsformen.

Querschnittsthema soziale Gerechtigkeit

Das Thema soziale Gerechtigkeit in Desinformationen hat viele Gesichter und legt sich quer über alle Sektoren zivilgesellschaftlichen Engagements. In Deutschland bewegen sich Desinformationskampagnen thematisch vor allem um Klima, Pandemie, Geschlechtergerechtigkeit und Sexualität, Migration, Flucht und Krieg. Sie verhandeln jedoch im Kern Fragen sozialer Gerechtigkeit, denn sie betreffen bestimmte soziale Gruppen in besonderem Maße.

Gesundheit

Mit der AIDS-Verschwörung der 1980er wurde von staatlichen Akteur*innen eine Reihe an Falschinformationen in Umlauf gebracht. Diese trafen vor allem schwule Communities und tragen auch heute noch in einigen Teilen der Welt, vor allem in bestimmten Regionen Afrikas, zu einem fatalen Umgang mit dem Virus und dessen Ausbreitung bei.

Während der COVID-19-Pandemie wurde ein solch hohes Maß an falschen Informationen in Umlauf gebracht, dass die WHO von einer gleichzeitigen "Infodemie" sprach (World Health Organization 2020). Dies erschwerte die Solidarität zu vulnerablen Gruppen, die vom Virus besonders gefährdet waren.

In den USA wurden seit Jahrzehnten die gesundheitlichen Auswirkungen von Schmerzmitteln vonseiten der wirtschaftlichen Akteur*innen der Pharmalobby verschleiert. Aufgrund struktureller Benachteiligungen auch im Gesundheitssystem sind arme und nicht-weiße Bevölkerungsgruppen überproportional von den gesundheitlichen und sozialen Folgen der sich in diesem Zusammenhang ausbreitenden Opioid-Krise betroffen.

Geschlecht und Sexualität

In Deutschland gehen sogenannte “Männerrechtler” oder “Väterrechtler” einer Vielzahl organisierter Kampagnen gegen die Mitsprache von FLINTA im gesellschaftlichen Diskurs und Schutz vor Gewalt vor. Sie arbeiten neben Hasskommentaren ebenso mit Falschbehauptungen und Desinformationen.

Zuletzt war die Reform des sog. Transsexuellengesetzes von Desinformationskampagnen begleitet worden, um Einfluss auf die Gesetzgebung zu nehmen. Dabei wird mit imaginierten Vorstellungsbildern und Mythen Stimmung gegen die gesellschaftliche Teilhabe von Transpersonen gemacht.

Klima

Klimafragen werden zunehmend unter dem Stichwort der Generationengerechtigkeit geführt sowie die global ungleich verteilten Verantwortlichkeiten und Klimafolgen verhandelt. Wie sich Akteur*innen für Umwelt- und Klimaschutz Desinformationskampagnen ausgesetzt sehen, thematisieren wir in einem anderen Blogpost. Im Kern betreffen Falschinformationen in der Klimadebatte auch daran geknüpfte Fragen der sozialen Gerechtigkeit, weil sie durch Verharmlosung und Leugnung der Klimaerwärmung auch eine Klimapolitik delegitimieren, die sozial schlechter Gestellte als am stärksten von den Folgen betroffene davor schützt.

Was tun? – Desinformation verstehen, sich vernetzen, gemeinsam Lösungen entwickeln

Im Kampf gegen Armut und Ausgrenzung, gegen Wohnungsnot und Obdachlosigkeit, beim Einsatz für ein Grundeinkommen, für gleichberechtigte Zugänge zum Arbeitsmarkt, aber auch Bildungs- und Kulturangeboten, sind wir immer wieder mit Falschbehauptungen und wirklichkeitsverzerrenden Erzählungen konfrontiert. Desinformation erschwert die Arbeit zivilgesellschaftlicher Organisationen und aktivistischer Bewegungen und führt überdies häufig zu zusätzlichen Aufgaben, z.B. dem Richtigstellen von Falschinformationen oder dem Reagieren auf Diffamierungen, was zeitaufwändig und emotional herausfordernd sein kann.

In einer Workshopreihe bieten wir einen Zugang zu Desinformation an, der einerseits das Phänomen durch analytische Betrachtung besser verständlich macht. Andererseits wollen wir den Blick weiten und schauen, in welche systemischen Zusammenhänge Desinformation eingebettet ist. Wir nehmen zunächst das “System Desinformation" unter die Lupe, um zu erforschen, wie die Einteilung in Information und Desinformation, welche schließlich die Basis unserer Wissensgrundlagen bilden, vonstatten geht. Wir blicken dann darauf, wie wir selbst mit der vorherrschenden Sozialordnung verbandelt sind, die wir zu verändern versuchen. Schließlich eruieren wir, wie wir gemeinsam aktiv werden und uns für mehr soziale Gerechtigkeit einsetzen können.

Der nächste Workshop zum Thema Desinformation und soziale Gerechtigkeit findet am 6. und 7.11. statt.

Für alle weiteren Workshop-Termine kannst du dich hier anmelden. Wenn du Fragen hast, kannst du dich an Katja wenden: katja.jaeger@betterplace-lab.org

Das Projekt Systemischer Umgang mit Desinformation" ist gefördert vom BMFSFJ im Rahmen von Demokratie Leben!

Unser Podcast

Die erste Folge in der Resilienz-Reihe