Silent protest is a white privilege – Ein paar #BlackLivesMatter Tweets reichen nicht aus

“Bei aller Erschütterung: Es gibt so viele vergleichbare Fälle. Warum ausgerechnet der Fall Floyd nach Europa geschwappt ist, kann ich gar nicht sagen. Es ist wohl so, dass eine ganze Fülle an Themen zusammengekommen ist: Covid-19 und die Folgen vor allem für Schwarze, die anhaltende Gewalt gegen Schwarze durch die Polizei und vieles mehr. Zudem vermute ich, dass immer mehr Menschen, vor allem jüngere, begreifen, dass Schweigen sie zum Mittäter macht, dass alle dazu aufgefordert sind, eine Haltung zu entwickeln, die solche Fälle ernst nimmt, egal, wo sie passieren.” Tahir Della, Sprecher der Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland (ISD)

“Heute Morgen, als ich aufstand [...] habe ich geweint. Ich dachte, dass eine andere Welt möglich sei, ohne alles in Brand setzen zu müssen. Jetzt bin ich mir gar nicht mehr so sicher.” [1] Raoul Peck, Regisseur

Silent protest war das Motto von Demonstrationen in vielen Städten zwei Wochen nach dem Mord an Georg Floyd. Im Vorfeld der Demos entwickelten sich in den sozialen Medien Diskussionen. Einige Organisationen riefen dazu auf, die Demos zu boykottieren, denn stiller Protest sei ein Privileg der Weißen.

Nicht allein deshalb haderte ich am Morgen des 6. Juni mit mir, ob ich mich auf den Weg zum Alexanderplatz machen sollte. Am Wochenende zuvor hatte ich die Augenbrauen hochgezogen, als ich von der Schlauchbootparty auf dem Berliner Landwehrkanal erfuhr, ganz zu schweigen von der Entrüstung über die sogenannten "Hygienedemos". Am Ende schämte ich mich dafür, die „Pandemie des Rassismus“ (wie es der Anwalt Floyds benannte) auch nur für einen Moment mit COVID auf eine Stufe gestellt zu haben.

Darum war es letztlich auch nur zu vernünftig, dass wir wenigstens 15000 waren – in einer Stadt mit knapp 4 Mio. Einwohnern ein Häufchen. Man hätte ein Vielfaches erwarten können.

Fünf konkrete Maßnahmen, die in die Wege zu leiten seien, wenn Rassismus und Kolonialismus überwunden werden sollten

Auf meinem Weg zur Kundgebung diskutierte ich noch mit meinem Freund Naldo Monteiro, der schon lange in Europa ist, es geschafft hat, in Lissabon Architektur zu studieren und inzwischen in Berlin in seinem Beruf zu arbeiten – obwohl er noch gar nicht so lange deutsch spricht und obendrein Schwarz ist. Er meinte, er halte nicht viel von so einer Demonstration. Stattdessen schrieb er mir, wo er die gravierenden Probleme sieht und welche Hebel betätigt werden müssten:

1. Bildung: Afrikanische Geschichte wird bis heute aus europäischer Perspektive erzählt. Kinder müssen eine afrikanische Darstellung kennen lernen.

Lehrpläne und Schulbücher müssen geändert werden. Entsprechende Forderungen über eine systematische Änderung des Afrikabildes im Unterricht gibt es schon lange, wie beispielsweise in einem Offenen Brief [2] aus dem Jahre 2013.

2. Märkte: Weg vom Export der reinen Rohstoffe, hin zum Vermarkten des Produkts.

Sämtliche Schritte bleiben in afrikanischer Hand. Schwarze Unternehmer*innen stellen Schwarze Arbeiter*innen zu guten Konditionen an. Bisher machen Schwarze weltweit größtenteils schlecht bezahlte Jobs. Darum sollten uns in Deutschland z.B. die günstigen Früchte aus dem Süden Europas im Halse stecken bleiben. Dokumentationen über die Umstände derer, die sie pflücken, können nicht länger verdrängt werden. [3]

3. Gesundheitssystem: Krankenhäuser mit traditioneller Medizin fehlen.

“An einigen medizinischen Fakultäten in Brasilien und Indien ist es inzwischen üblich, dass neben westlicher Schulmedizin auch traditionelle Heilmethoden der lokalen Bevölkerung gelehrt werden”, heißt es in einem Beitrag vom Deutschlandfunk [4] über Rassismus in Verbindung mit Wissenschaft. Es heißt da, “[d]er portugiesische Soziologe Boaventura de Sousa Santos fordert „kognitive Gerechtigkeit“: Die Anerkennung nicht-westlichen Wissens als gleichwertig. Ohne diese könne es auch keine soziale Gerechtigkeit auf der Welt geben – und Menschen, die bisher ausgegrenzt und marginalisiert wurden, blieben das auch.”

4. Geschichte: Genozide, Massaker, Beteiligung von Menschen aus den Kolonien am 2. Weltkrieg und viele weitere Verbrechen an der Menschlichkeit müssen thematisiert, Reparationen verhandelt und gezahlt werden.

Im Prozess um den Völkermord an den Herero und Nama ist trotz ausführlicher Dokumentation bis heute keine Einigung erlangt worden. Dies ist nur ein Fall von vielen, die dringend aufgearbeitet und geklärt werden müssen. Mit den Verbrechen untrennbar verbunden ist die Debatte über Raubkunst in europäischen Museen, die immer wieder offenbart, wie koloniale Denkstrukturen nicht im mindesten überwunden sind. “However, when we reflect on the question of cultural heritage objects, we must understand that it’s not simply objects that were taken, but reserves of energy, creative resources, reservoirs of potentials, forces engendering alternative figures and forms of the real, forces of germination; and this loss is incommensurable. Simply giving back these cultural objects won’t be the proper compensation. This force arises from a relation and mode of participation in the world that has been irremediably trampled upon.” [5]

5. Rechtssystem: Recht muss aus der Gesellschaft entstehen.

Afrikanische Länder brauchen ihre eigene Rechtsprechung. Von ehemaligen Kolonialstaaten übernommene Verfassungstexte müssen überarbeitet werden.

Der Philosoph Achille Mbembe bestätigt Naldo Monteiros Forderungen: eine Welt ohne Rassismus gegen Schwarze sei nur möglich, wenn „Afrika eine eigene Kraft, eine Macht unter anderen Nationen wird. Also, egal wie schwarz Amerikaner, egal wie schwarz Franzosen, egal wie schwarz Briten, egal wie schwarz Sie sind, Afrika verfolgt all diese Menschen, wo auch immer sie sind.“[6] Achille Mbembe

Wer hat zugehört, wenn es um Rassismuserfahrung ging?

Es ist vermutlich unmöglich, einen Schwarzen außerhalb Afrikas zu treffen, der noch nie rassistisch beleidigt wurde. Schwarze Menschen werden seit Jahrhunderten unterdrückt und diskriminiert. Sie werden beschimpft, gejagt, misshandelt und ermordet. In dem Porträt von James Baldwin “I’m not your negro” stellt der Regisseur Raoul Peck deutlich heraus, wie sich zwar in den letzten Jahrzehnten an der Form, nicht jedoch an der Brutalität der Gewalt etwas geändert hat. Es gibt den Film jetzt auf Netflix und in der Arte-Mediathek. Die Listen von Filmen, Büchern, Songs, in denen rassistische Gewalt thematisiert wird, sind lang. Überall werden jetzt welche geteilt. Man kann sich fragen, wo waren sie vorher? Wen haben sie interessiert? Wer hat zugehört, wenn es um Rassismuserfahrung ging?

“Verstehen Sie mich nicht falsch, dies ist weder eine Diskussion, noch ein Forum, noch die Eröffnung irgendeines Forums. Ich habe keinen Dialog zu beginnen. Die Zeit dafür ist vorbei. Ich stehe nicht mehr zur Verfügung. Hören Sie ein für alle Mal auf, die Opfer aufzufordern, Ihre Probleme zu lösen.”, schreibt Raoul Peck in diesen Tagen und benennt diese Probleme klar und deutlich: “Demokratie ist Frieden in Europa, aber Krieg anderswo. Bequem in einem sicheren Bezirk wohnend, täglich von "fremden" Müllmännern gereinigt, während der Rest der Welt stöhnt. Ignorieren Sie wirklich den Preis für Ihren Wohlstand? Oder tun Sie nur so? Rassismus? Ist nur ein Teil der Topographie. Weil alles miteinander verbunden ist. Die Suche nach Superprofiten, die an anderer Stelle unweigerlich einen anderen zermalmt, die Zerstörung des Planeten, die Ausbeutung der Schwächsten, der Hass auf den anderen, der Überkonsum, egal um welchen Preis (der wiederum von anderen bezahlt wird), all das macht, wenn der Spiegel zerbrochen ist, nachlässig und gleichgültig.”[7]

Schuld und Scham genügen nicht. Es gilt endlich selbständig einen Schritt weiter zu gehen für alle, für die Bürger*innen der Mehrheitsgesellschaft, für die Entscheider*innen, für die Bildungselite, für mich, für‘s betterplace lab.

“Legen Sie alles auf den Tisch, bauen Sie alles wieder auf. Keine Institution sollte unangetastet bleiben. Das ist das Problem eines jeden Bürgers, einer jeden Institution, einschließlich der Presse, eines jeden Vorstands, einer jeden Gewerkschaft, einer jeden politischen Organisation, überall muss diese Arbeit begonnen werden, denn es liegt an Ihnen, dieses Problem zu lösen, nicht an den Schwarzen, nicht an den Arabern, nicht an den Frauen, nicht an den Homosexuellen, nicht an den Behinderten, nicht an den Arbeitslosen. Wir werden zu gegebener Zeit zu Ihnen stoßen können.” [8]

Heute, drei Wochen nach dem silent protest, der in Berlin und Hamburg gar nicht leise zu Ende gegangen ist und zu Situationen geführt hat, bei der der Hashtag #beiunsauch von der Polizei bestätigt wurde, nehme ich wahr, dass sich tatsächlich etwas in Gang setzt.

Die Proteste haben erreicht, dass es Forderungen auf die Tagesordnung schaffen, die seit Jahren von Aktivist*innen aufgestellt werden. Das ist gut. Das macht Mut. Und doch mahnt Achille Mbembe, dass es nicht ausreicht, das Wort "Rasse" aus der Verfassung zu streichen, damit der Rassismus wie durch ein Wunder verschwindet. Es bliebe abzuwarten, ob der Wandel wirklich den Weg für neue Handlungs- und Reflexionsmöglichkeiten öffnet und wohin diese führen werden.

Damit aller Aktivismus am Ende nicht doch eine bloße Reihe symbolischer Akte bleibt und wir in wenigen Wochen zusehen, wie eine andere Sau durchs Dorf getrieben wird, verfasse ich diesen Blogpost. Für uns im betterplace lab markiert dieser einen Punkt, von dem aus wir die Beschäftigung mit dem System Rassismus nicht mehr nur als individuelle Aufgabe betrachten, sondern als kollektiven Auftrag.

Wir haben ein paar Fragen zu beantworten:

Wie bewusst sind wir uns als Einzelne und als Kollektiv unserer rassistischen Prägung, der Fallen, in die wir tappen sowie der Aufgaben, die wir uns stellen müssen, um die Arbeit in verschiedenen Kontexten zu nutzen um antirassistisch zu wirken?

Wie bewußt sind wir uns weißer Privilegien?

Schulen wir uns regelmäßig?

Wie gehen wir vor, um antirassistisches Engagement nicht nur punktuell in Projekten wie Das NETTZ zu fördern oder beim Aufbau des Digital Human Rights Lab Uganda einen eigenen Umgang mit kolonialen Strukturen zu finden, sondern mehr noch, diese miteinander verwobenen Themen bewusst auf die Agenda zu setzen?

Wie gut kennen wir unsere Projektpartner*innen unter antirassistischen Gesichtspunkten und wie gestalten wir unsere Arbeit diesbezüglich?

Welche Rolle spielt die internationale Entwicklungszusammenarbeit im Hinblick auf Einflussnahme in afrikanischen Ländern?

Wie offen beziehen wir Stellung?

Und vor allem wie gut hören wir zu?

“Nicht, dass wir nicht gesprochen haben, aber unsere Stimmen sind durch den Rassismus systematisch verstummt. Diese Unmöglichkeit veranschaulicht, wie sprechen und verstummen sich wie ein analoges Projekt entwickeln. Der Akt des Sprechens ist wie eine Verhandlung zwischen denen, die sprechen, und denen, die ihnen zuhören; d.h. den sprechenden Subjekten und ihren Zuhörern. Zuhören ist in diesem Sinne ein Akt der Anerkennung gegenüber dem Sprecher. Man kann nur sprechen, wenn der eigenen Stimme zugehört wird. Diejenigen, denen zugehört wird, sind zugehörig, genau wie diejenigen, denen nicht zugehört wird, nicht dazugehören.” [9]Grada Kilomba

Quellen und Ergänzungen:

[1] Raoul Peck, J’ÉTOUFFE, LE1

[2] Offene Brief an die Schulbuchverlage Westermann Schroedel Diesterweg Schöningh Winklers GmbH, 14.11.2013

[3] „Die „Ghettos“, in denen die Migrant*innen wohnen, sind abgetrennt von öffentlichen Dienstleistungen – es gibt in den maßlos überfüllten Unterkünften der Arbeiter*innen kaum Zugang zu Wasser, der Zustand der Sanitäranlagen ist menschenunwürdig, es gibt wenig Essen und sowohl psychische als auch physische Gewaltanwendung. Die Unterbringung in Zelten ist keine Seltenheit. Insbesondere Migrant*innen sind trotz dieser unmenschlichen Bedingungen von den Arbeitgeber*innen und Vermittler*innen abhängig, denn sie halten sich häufig ohne Arbeitserlaubnis und Aufenthaltstitel im Land auf. Wegen des fehlenden Aufenthaltsstatus haben sie keinen Zugang zu legalen Arbeitsplätzen und einen haben daher keinen rechtlichen und sozialen Schutz. Deswegen leben viele in der ständigen Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren und in einer noch größeren Ernährungsunsicherheit zu enden. Diese Situation wird skrupellos ausgenutzt und endet in Arbeits- und Lebensbedingungen, die moderner Sklaverei ähneln.“ Marwin Ouzen, eu-afrika-blog des Südwind-Instituts

[4] Weiße Flecken auf wissenschaftlicher Landkarte, Deutschlandfunk

[5] Felwine Sarr und Bénédicte Savoy, The Restitution of African Cultural Heritage. Toward a New Relational Ethics

[6] Achille Mbembe, Faire converger la lutte contre le racisme avec celle pour la survie de l'humanité

[7] Raoul Peck, J’ÉTOUFFE, LE1

[8] ebenda

[9] Grada Kilomba, Plantation Memories. Episodes of Everyday Racism

Foto: Sheggeor laker | Unsplash

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