Selbstoptimierung als Neurose

Der Wecker klingelt. Ich drücke auf die Snooze-Taste. Dann wälze ich mich zur anderen Seite, nur um wenig später doch schnell aufzuspringen. Im Kopf blinkt die To-do-Liste auf. Die ist lang und um 10 Uhr ist der Workshop „Hallo Selbst“. Also besser vorher noch ein paar Sachen abarbeiten, sonst wird sie episch lang. Vergangene Woche hatte ich einen kleinen Hänger und die Prokrastination war sehr anhänglich. Aber heute dalli, dalli. Also fertigmachen, Kaffee aufbrühen und Laptop aufklappen. Homeoffice macht’s möglich. Vom Schlafzimmer geht’s über Bad und Küche ohne Umwege direkt ins Büro, bei mir das Wohnzimmer. Die guten Vorsätze ums Morgenritual bleiben mal wieder auf der Strecke. Keine Zeit. Ich bin im Abarbeite-Modus. Die Uhr tickt in Richtung 10 Uhr. Ich bin noch nicht fertig mit meiner Liste und frage mich, ob ich absagen soll. Das sind immerhin 3 Stunden, die ich im Workshop verbringen werde! Ich denke an die Kacheln auf meinem Bildschirm, die vielen Augen, Breakout-Rooms, meine Zoom-Fatigue. Außerdem habe ich schon relativ viele Mediationsseminare und Yogaschnickschnack (so nennen es meine Freunde) gemacht. Aber nun gut. Angemeldet ist angemeldet. Ich gebe mir einen Ruck und schalte mich um 9:59 Uhr dazu. Dann passiert etwas Interessantes:

Die Trainerin Sucha Gesina Wolters, Traumatherapeutin, empfängt uns mit ruhiger Stimme im digitalen Raum. Sie sagt nicht viel, sie macht kaum Gesten, schaut einfach nur freundlich in die Kamera und begrüßt uns. Die Ruhe, die sie dabei ausstrahlt, bringt mich aus meinem Hamsterrad gleich runter auf die Erde. Ich bin im Hier und Jetzt und ziemlich überrascht, wie schnell das gehen kann – durch ihre bloße Präsenz.

Der ganze Workshop ist gut angeleitet. Eine Mischung aus Impulsen, meist Fragen, Austausch in Dyaden (im 2er Gesprächen) und in der großen Runde. Aus dem Kopf raus geht’s auch mal rein in den Körper, mit ein paar einfachen Übungen fürs Nervensystem. Absolut Schreibtisch tauglich.

Wir sprechen u.a. über unsere Bedürfnisse – die eignen und die, der anderen. Der Tanz zwischen selbst- und fremdbestimmt, zwischen dem Wunsch nach Zugehörigkeit auf der einen Seite und dem Wunsch nach autonomen Selbstausdruck auf der anderen Seite. Wenn der Tanz gut choreografiert ist, läuft alles glatt. Dann ist die berühmt berüchtigte Leichtigkeit da. Bei den anderen Tagen, wo es nicht so hinhaut, geht’s schon los damit, dass das morgendliche Aufstehen einen immensen Kraftakt darstellt. Wo sitzt die Spannung eigentlich in mir, frage ich mich? Oft sind es die Schultern. Manchmal auch der Kopf. Aber dann lerne ich, dass es auch Vorboten von Spannungen gibt. Sie heißen: Müdigkeit, Tagträume, Spötteleien, Langweile und Desinteresse. Oh ha! Ich realisiere, dass ich selbst auch eine Ressource bin, mit der ich nachhaltig umgehen sollten. Schließlich sind auch meine Kräfte endlich. Notiert habe ich mir, dass wellbeing nicht bedeutet, dass alles gut ist. Im Gegenteil. Machen wir uns ehrlich! Sagen wir, was Sache ist, wie es uns geht, was wir brauchen – gerade auch dann, wenn es uns nicht gut geht. Noch vorm Burnout! Und: Besonders hilfreich fand ich den Gedanken, dass Selbstoptimierung auch eine Form von Neurose ist. Da musste ich schmunzeln, fühlte mich aber auch ertappt. Wie oft habe ich schon versucht, mich in irgendwelche Schablonen zu pressen!

Die Feedbackrunde des Workshops ist herzlich. Alle sind dankbar über den persönlichen Austausch und die gesammelten Erfahrungen. Auch ich. Sonst hab ich’s nicht so mit Zitaten. Aber mir fällt auf einmal das von Virginia Satir ein: „Ich glaube daran, dass das größte Geschenk, das ich von jemandem empfangen kann, ist, gesehen, gehört, verstanden und berührt zu werden. Das größte Geschenk, das ich geben kann, ist, den anderen zu sehen, zu hören, zu verstehen und zu berühren. Wenn dies geschieht, entsteht Kontakt.“

Und dann geht mir ein Licht auf. Denn was die renommierte Psychotherapeutin Virginia Satir beschreibt, gilt nicht nur für unser Miteinander, sondern auch für den Kontakt mit mir selbst: Hallo Selbst! Aber so was von! Zufrieden verlasse ich den Workshop und gehe lächelnd zurück an meine Arbeit. Die Todo-Liste wirkt inzwischen schon kleiner als noch zu Beginn des Tages. Alles halb so wild, sage ich mir. Denn ich bin ja da – für mich. Und das ist, was zählt.

Neugierig geworden? In fünf aufeinander aufbauenden Einsteiger*innen-Workshops vermittelt das betterplace well:being-Programm Werkzeuge für einen besseren Selbstkontakt. Teilnehmende trainieren Fähigkeiten wie Selbstreflexion, transparente, gewaltfreie Kommunikation und Empathie. Mehr Infos findet ihr unter diesem Link.

Im betterplace co:lab-Programm lernen Teilnehmende, was es heißt zu kollaborieren. Dazu gehört es, Grenzen wahrzunehmen und zu kommunizieren, die eigene Rolle in der Zusammenarbeit mit anderen zu reflektieren und zu lernen, neben der eigenen auch weitere Perspektiven einzunehmen. Klicke hier für weitere Infos.

Foto: Henry Lai | Unsplash

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Die erste Folge in der Resilienz-Reihe