Neue Krise, neue Probleme – Was haben wir aus der Engagement-Flut 2016 gelernt?

Bild: Edward Wadsworth - Dazzle-ships in Drydock at Liverpool (1919)

Vierzigtausend Menschen machen bei einem Hackathon mit, um Lösungsideen für verschiedenste Herausforderungen in der aktuellen Krise zu entwickeln. Überall hängen Menschen Päckchen für Bedürftige an Gabenzäune, Louis Vuitton stellt jetzt Händedesinfektionsmittel her. Das Engagement in dieser Krise ist umwerfend. Das haben wir so noch nicht erlebt. Beispiellos ist auch die Krise selbst, in der wir uns alle gemeinsam befinden, von der wir gerade weltweit und fast gleichzeitig betroffen sind. Und doch kommt bei viele meiner Kolleg*innen das gleiche Gefühl auf: Kommt dir das nicht bekannt vor? Erinnern dich die letzten Wochen nicht auch an 2016?

Damals kamen viele Syrer*innen über das Mittelmeer nach Europa, auf der Flucht vor einem Krieg und mit der Hoffnung, ein wenig Ruhe zu finden, die eigenen Kinder in einem friedlichen Land aufwachsen zu sehen, die eigene Ausbildung weiter zu führen, zu arbeiten. Dieses Ereignis wurde in den Medien häufig als “Die Flüchtlings-Krise” bezeichnet.

Die Situation allerdings war eine völlig andere – der Krieg war weit weg, wir mussten nicht um unser Leben oder das unserer Familien fürchten. Einige Menschen machten sich Sorgen um ihren Job oder hatten Angst davor, dass Deutschland “es” - die große Aufgabe der Integration - nicht "schaffen" würde. Aber direkt waren wir hier eigentlich nicht betroffen.


Explosion des (digitalen) Engagements 2016

Das ist jetzt anders: krank werden kann in dieser Krise jeder und jede. Warum fühlen wir uns dennoch an diese Zeit erinnert? Die Reaktion der Zivilgesellschaft in vielen europäischen Ländern war 2016 ebenfalls enorm – es gab Hackathons, Unterstützungsangebote sprossen aus dem Boden, viele Menschen wollten mit anpacken, ihren Teil beitragen oder Ihre Fähigkeiten einsetzen um Geflüchtete zu unterstützen – bei der Orientierung in einem neuen Land, beim Finden einer Unterkunft, einem Studienplatz, einem neuen Job. Um möglichst schnell und flexibel helfen zu können, wurde oft auf digitale Angebote gesetzt: Sprachlern-Apps, Online-Job-Matching-Tools, E-learning. Auch die vielen neuen Engagierten konnten sich online über Einsatzoptionen informieren. Da es so viele Angebote gab, verloren viele bald den Überblick: Wo werde ich als engagierte Helfer*in gebraucht? Aber auch: Welches ist ein vertrauenswürdiges Angebot, dass ich als Geflüchtete*r nutzen kann? welches Projekt unterstütze ich als Spender*in, als hilfsbereites Unternehmen? Schnell gab es Meta-Plattformen, die versuchten, Ordnung in die Fülle von Initiativen und Bedarfen zu bringen. Irgendwann war sogar eine Meta-Plattform für die Meta-Plattformen geplant.


Parallelen zur aktuellen Situation

Wenn wir betrachten, was augenblicklich geschieht, stellen wir fest, einige Parallelen sind evident:

  • Viele neue Akteure sind aufgrund der Notlage motiviert und engagieren sich (ehrenamtlich), darunter viele fachfremde Akteur*innen (z.B. Tech-Startups, die 2016 Integrations-Apps entwickelten oder heute versuchen, medizinische Prozesse zu optimieren).
  • Es gibt gezielte Anregung und sogar Förderungen für Neues wie Hackathons, jetzt sogar noch mehr als 2016 – auch von staatlicher Seite, Wohlfahrt, ...
  • Um schnell und flexibel helfen zu können, werden viele digitale Lösungen erarbeitet.
  • Der Fokus liegt darauf, die aktuelle Notsituation zu lindern. Dafür werden mitunter Kompromisse gemacht, z.B. auf den Ebenen Datensicherheit oder Datenschutz.
  • Engagement bildet die Grundlage vieler neuer Initiativen.


Was haben wir gelernt?

Ich selbst habe 2016 bei der Gründung eines solchen digitalen Startups (Kiron) mitgewirkt und bin etwas später ins betterplace lab eingestiegen, um mir die Dynamiken in diesem Feld aus einer anderen Perspektive anzusehen. Hier haben wir uns der Beobachtung und Analyse des Booms der digitalen Flüchtlingshilfe gewidmet. Was hat funktioniert und was nicht? Welche Initiativen bestehen noch? Gibt es international ähnliche Verläufe? Im Rahmen von BMI- und EU-geförderten Projekten haben wir uns die Herausforderungen und Faktoren für das Gelingen (nachhaltiger) digitaler Unterstützungsangebote genau angesehen. Aus dieser Zeit haben wir einiges gelernt, was sich auf die aktuelle Situation anwenden lässt:

  • Bedarfe ändern sich: In den verschiedenen Phasen einer Krise haben Benutzergruppen verschiedene Probleme und Bedürfnisse.
  • Unterstützungsangebote müssen sich an den Nutzer*innen orientieren und mit Zielgruppen gemeinsam entwickelt werden.
  • Bestehende Strukturen einbeziehen: Auch wenn staatliche und traditionelle Unterstützungsstrukturen oft nicht so agil und schnell sind wie die der Tech-StartUps, verfügen sie dennoch über relevantes Wissen und sollten mit in die Lösungsfindung eingebunden werden.
  • Das Engagement der Zivilgesellschaft ist wichtig und kommt zur richtigen Zeit. Langfristig werden viele Initiativen aber nicht (ausschließlich) auf den Schultern Ehrenamtlicher lasten können. Nach einer gewissen Zeit sollten Nachhaltigkeit und andere Modelle der Unterstützung reflektiert werden.
  • Digitales agil fördern: Neue digitale Lösungen erfordern besondere Förderbedingungen wie Experimentierfreude, Transparenz und die Koordination von Fördermittelgebern.


Publikationen zum Thema

Einige unserer Empfehlungen scheinen jetzt wieder zu greifen. Es bedarf einer detaillierten Analyse und Gesprächen mit den verschiedenen Akteur*innen, die jetzt aktiv sind, um die Komplexität der aktuellen Krise mit der vergangenen zu vergleichen. Aber wir können jetzt schon eine Lektüre unserer Publikationen aus der Reihe Migration & Flucht empfehlen.

Auch in dieser Krise brauchen wir neue Lösungen und dürfen daher experimentieren – was wir nicht brauchen sind alte Fehler. Die Engagementwelle 2016 hat viele tolle Ideen und Organisationen hervorgebracht. Aber es ist auch viel Potential verloren gegangen und passioniertes Engagement verpufft.

Wenn wir jetzt mehr Chancen zur Abstimmung schaffen, frühzeitig Ressourcen bündeln und etablierte Akteure abholen und mit einbinden, können wir gemeinsam besser wirken. Wenn wir gemeinsam mit Zielgruppen an Lösungen und deren Weiterentwicklung arbeiten, sind wir zielgerichteter. Und wenn unser Engagement gefördert wird, bestehen unsere Lösungen vielleicht auch noch bis zur nächsten Krise.



Unser Podcast

Die erste Folge in der Resilienz-Reihe