Woher kommt der Mut, Laura Ludwig und Jan Stassen?

Wem fällt zu Museum nicht Sekundenkleber und Erbsensuppe ein? Ist es mutig, wenn Menschen sich an Kunstwerke wie die „Sixtinische Madonna“ kleben oder Van Goghs Sonnenblumen mit Suppe vollspritzen, um die Welt vorm Untergang zu retten? Die einen schütteln den Kopf ob der überschrittenen Grenzen, verlangen Achtung vor Kunstwerken oder geben Aktivist*innen gar die Schuld am Tod einer verunfallten Radfahrerin. Die anderen finden die Diskussion über die Angemessenheit friedlicher Protestformen in Anbetracht der Klimakatastrophe geradezu obszön. Sie prangern mangelnden politischen und gesellschaftlichen Handlungswillen an und feiern den Mut derer, die Straßen und Landebahnen blockieren. Wenig zu diskutieren gibt es, wenn wir an den zivilen Ungehorsam von Mahsa Amini denken. Dieser zeugt unzweifelhaft von Mut. Alle nur erdenklichen Mittel zu nutzen, um die Erde vor der Katastrophe bewahren zu wollen, aber nicht?

Werte müssen ausgehandelt werden. Dass das sogar im Museum passieren kann, dafür sorgen Laura Ludwig und Jan Stassen. Sie haben es sich zur Aufgabe gemacht, Menschen mit und über Werte ins Gespräch zu verwickeln.

Barbara Djassi hat mit ihnen ein Gespräch geführt, nachdem die beiden bei der Konferenz für Engagement, New Work und systemischen Wandel im bUm Berlin ein Pop-Up-Museum aufgebaut haben.

Barbara Djassi: Ihr betreibt ein Museum für Werte. Heißt das, Werte gehören jetzt schön angeordnet in gut temperierte Hallen?

Jan Stassen: Wir möchten einen Erfahrungsraum schaffen, in dem wir miteinander über Werte verhandeln. Wir glauben nämlich, dass solche Orte, an denen sich Gesellschaft trifft und im Alltag verhandelt – früher waren das z.B. Kirchen und Marktplätze – nicht mehr genügend vorhanden sind. Diese soziale Infrastruktur leckt ein bisschen. Das ist eine Herausforderung für Städte und Kommunen, aber auch für unser gesamtes demokratisches System.

Wir setzen bewusst beim Thema Werte an, weil der Anteil der inneren Welt für uns als Gesellschaft, wie wir finden, unterrepräsentiert oder zu wenig besprochen ist. Wir versuchen, dafür Orte zu schaffen, abseits dogmatischer Ideen davon, was “innere Welt” bedeutet.

Wir schaffen einen offenen Raum für jede*n, ganz niedrigschwellig, in dem solche Themen besprochen und verhandelt werden können. Uns interessiert, wie wir uns über Werte wie z.B. Respekt unterhalten können, ohne zu definieren: Das ist es, das ist nicht. 
Jan Stassen

Das tun wir mit den Hebeln der Kunst in Ausstellungsformaten und bieten dabei die Möglichkeit, dass jede*r seine*ihre eigene Akteur*in oder Agent*in wird. Es gibt keine Geschwindigkeit. Es gibt keine Timeline wie beim Film oder so. Es ist kein passives, sondern ein sehr aktives Medium, in dem man sich selbst bewegen kann. Kunst berührt uns auf eine Art und Weise, die wir oft gar nicht benennen können. Sie berührt uns ganz implizit und hilft, Vokabeln zu finden. Wir tun das seit 2017 in verschiedenen Konstellationen, mit verschiedenen Projekten, in/mit verschiedenen Städten und in/mit verschiedenen Ländern.

Leute, die bei Museen an verstaubte Exponate denken oder an von Werk zu Werk schreitende Betrachter*innen, liegen also beim Museum für Werte falsch. In Museen wird allerdings gesammelt – und das geschieht auch hier.

Am Anfang steht jeweils ein Open Call, bei dem dazu aufgerufen wird, Geschichten aufzuschreiben zu den Werten, die verhandelt werden sollen. Dieser Call kann sich an Initiativen, Firmen oder auch ganze Städte richten. So kann eine gesamte Stadtgesellschaft aufgerufen sein, sich mit den jeweiligen Werten zu beschäftigen, ob das Kund*innen in Friseursalons, Gäste in Cafés oder Bibliotheksbesucher*innen sind. Bei größer angelegten Projekten werden Workshops angeboten, bei denen die Menschen beim Aufschreiben ihrer Geschichten angeleitet werden. Manchmal binden die Museumsbetreiber*innen auch Journalist*innen ein, um Stories von Menschen zu sammeln, die selbst nicht schreiben können.

An das Sammeln schließt sich der Explore & Experience Teil an in Ausstellungen, die Orte der Begegnung sind. Begleitend können Events stattfinden, wo Bürger*innen ihre Geschichten selbst laut vorlesen wie bei einem Poetry Slam – quasi einem Value Slam.

Den letzten Teil bildet die Harvest & Reflect Phase. Die Geschichten bleiben langfristig in der Stadt oder in der Gemeinschaft.

Barbara Djassi: Ihr habt euch dem Begriff Mut angenommen, der Kernthema der eintägigen Konferenz am 2. September war. Wie habt ihr dieses komplexe Konzept im Kleinformat umgesetzt?

Laura Ludwig: Wir haben, so wie wir das immer machen, im Vorfeld der Veranstaltung einen Open Call gestartet an alle Konferenzteilnehmer*innen und sie aufgefordert, Geschichten einzureichen oder Momente und Situationen in ihrem Leben zu beschreiben, die sie mit Mut verbinden. Dadurch, dass wir dieses Konzept in die Konferenz eingebracht haben, war schon dialogfähiges Material da und die Menschen haben sich über diese Geschichten und Erfahrungen austauschen können.

Jan Stassen: Man könnte fragen: Warum mikroskopische Geschichten, warum Anekdoten? Bei solchen großen Deutungsbegriffen wie Mut oder auch Freiheit haben wir so eine moralische Idee davon, was wir damit meinen. Dabei sind natürlich die Geschichten, Erfahrungen, Anekdoten, die Menschen mit dem Begriff verbinden, komplett unterschiedlich.

Das gilt auch für andere Begriffe. Wenn ich “Baum” sage und wir würden malen, was wir uns dazu vorstellen, dann wären drei unterschiedliche Bäume im Raum. Vermutlich hätten alle Wurzeln, einen Stamm und Äste. Es würden ähnliche Bilder herauskommen, aber die Nuancen wären verschieden. Und diese Nuancen schleifen wir, wenn wir über Begriffe reden, oft raus.

Wir wollen die feinen Unterschiede wieder zurück in den Raum bringen. Wir wollen, dass die Nuancen, die persönlichen Facetten und Perspektiven der Menschen bestehen bleiben.
Jan Stassen

Barbara Djassi: Wie ist das angenommen worden bei unserer Konferenz?

Laura Ludwig: Wir hatten sehr viele Klicks im Open Call, Einreichungen hingegen nicht ganz so viele. Wir haben daraufhin am Tag der Konferenz in der Location verschiedene Stationen aufgebaut, wo Leute sich zurückziehen und Geschichten schreiben konnten. Dort lag Material aus und der Aufruf, Mutmacherin zu werden und die eigene Geschichte zu teilen, um diesen Perspektivwechsel zu ermöglichen: Was verbinde ich mit Mut? Was verstehst du unter Mut?

Wir haben in diesem Fall mit der wachsenden Ausstellung gearbeitet, zu der die Teilnehmer*innen während des Tages beitragen konnten. Außerdem haben wir auch darum gebeten, Objekte zu den Geschichten mitzubringen, die wir dann fotografieren und mit den Geschichten ausstellen können. Die Ausstellung war noch einige Wochen nach der Konferenz in der Eingangshalle des bUm zu sehen.

Laura Ludwig: Ich habe eine der Einreichungen mitgebracht und würde die Geschichte gern vorlesen. Sie kam mit einem Objekt, einer Postkarte, auf der ein Zitat von George Lucas stand: “We are all living in cages with the door wide open.” Die Geschichte hatte den Titel "Machen statt quatschen".

Barbara Djassi: Ich finde interessant, dass in den von euch gesammelten Mut-Geschichten jeweils eigene Erfahrungen beschrieben werden. Es hätte ja auch sein können, dass jemanden der Mut einer anderen Person so fasziniert, dass er*sie deren Geschichte aufschreibt. Vorstellbar wäre im Augenblick, dass Leuten bei der Frage nach Mut Frauen im Iran in den Sinn kommen oder in Afghanistan, Ukrainer*innen,…. Den Konferenzteilnehmer*innen fiel ihr Mut ein, das eigene Leben zu verändern, einen anderen Job anzunehmen. Da sieht man, was für eine große Spannbreite so ein Begriff in sich birgt.

Jan Stassen: Ja, es ging viel um Selbstverwirklichung. Aber ob man nun bei Mut an Frauen denkt, die im Iran auf die Straße gehen oder auch an Menschen mit Fluchterfahrungen: Es geht nicht darum, einzuordnen und zu vergleichen, wessen Geschichte mehr oder weniger wichtig ist. Es geht vielmehr darum, ein Verständnis für die eigene Welt und seine Umwelt zu bekommen.

Laura Ludwig: In unserem Text zum Open Call stellten wir fest, dass wir in einer sehr komplexen Welt auf viele Krisen reagieren müssen, als Gesellschaft, als Individuum, als Organisation. Es ist schon erstaunlich, dass die Mut-Geschichten, die wir vor der Konferenz bekommen haben, allesamt von individuellem Alltagsleben erzählen, z.B. von der Angst, den Führerschein wirklich zu verwenden. Es ist nicht auf die großen Themenkomplexe referiert worden.

Während der Konferenz änderte sich das. Die Leute haben dann Geschichten eingereicht, die sich auf ihren Job und/oder ihren wirtschaftlichen Alltag bezogen.

Nachdem ich jetzt alle Geschichten gelesen habe, denke ich, dass wir viel mehr darüber sprechen sollten, was anscheinend mutige Entscheidungen sind. Wir sollten viel mehr in den Austausch gehen und Mut zu etwas Alltäglicherem machen.

Mut hört sich nach so etwas Riesengroßem an. Ich muss ganz viel aufbringen, um mutig zu sein. Vielleicht kommt es mir als Einzelperson aber nur so vor und in einem Kollektiv ist es dann viel einfacher.
Laura Ludwig

Natürlich bringen die Menschen im Iran einen ganz anderen Mut auf als jemand, der hier seinen Job kündigt. Aber beides ist Realität und den Mut aufzubringen, kostet jeweils Überwindung. Wenn wir uns mehr darüber austauschen, werden wir vielleicht als Individuen mutiger und dann gemeinsam als Gesellschaft.

Barbara Djassi: Wenn man es genau nimmt, geht es doch jeweils darum, sich selbst verwirklichen zu können. Die Umstände sind natürlich verschieden und freilich ist der Mut, das eigene Leben aufs Spiel zu setzen, nicht mit dem Mut vergleichbar, den Job zu kündigen. Jedoch geht es jeweils darum, so leben zu können, wie man das für richtig hält – im Iran ohne Repressionen, hier in einem gesunden Verhältnis zur Arbeit.

Jan Stassen: Wer bin ich im Kontext der anderen? Um diese Frage geht es. Wenn ich Werte mit anderen in meiner eigenen Umgebung verhandle und dabei auch in die Auseinandersetzung gehe, dann ist diese eingebettet in den Kontext, von dem ich selbst ein Teil, in dem ich eine aktive Person bin. Dann lasse ich auch Schmerz zu. Vielleicht fühlt es sich für einige Leute ungerecht an, wie ich manche Sachen sehe. Unserer Meinung nach passiert das viel zu selten, dass wir das innerhalb unserer Kontexte verhandeln.

Laura Ludwig: Das Feedback von Menschen, die bei uns in Ausstellungen waren und sich mit bestimmten Werten beschäftigt haben, hört sich ganz oft so an: „So habe ich das noch nie gesehen. Diese Perspektive war für mich gar nicht präsent, aber schön oder auch nicht so schön, dass es das gibt.“ Wir kriegen viel zurückgespielt, was das mit Menschen macht.

Was würde die Autorin einer der Mut-Geschichten, die wir gesammelt haben, jetzt sagen, wenn sie ihre neben der einer Iranerin zum aktuellen Zeitpunkt platziert sieht? Würde sie ihre Geschichte dann vielleicht anders sehen? Würde sie ihre Entscheidung vielleicht gar nicht mehr so mutig finden, sondern eher als einfache Möglichkeit wahrnehmen im Sinne von: Ich kann halt Entscheidungen treffen, weil ich eine emanzipierte Frau bin und meinen Job wechseln kann. Und eigentlich muss ich gar nicht mutig sein, wenn ich meine Situation vergleiche mit der einer Frau oder eines Mannes, der/die sich gerade im Iran in Lebensgefahr begibt. Vielleicht verschieben sich dann Verhältnisse und Prioritäten.

Du willst mehr über die spannende Arbeit des Teams um Laura Ludwig und Jan Stassen wissen und die Aktionen des Museums für Werte verfolgen? Dann schau dir die Homepage an: https://www.wertemuseum.de/

Titelfoto: Daphne Tsaliki | bUm Berlin

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Die erste Folge in der Resilienz-Reihe