“Beeindruckend war die Größe und Internationalität der Konferenz: 900 Gäste aus mehr als 60 Ländern - von allen fünf Kontinenten. Das sorgte für ein besonderes Flair und eine große Vielfalt an Perspektiven.”, findet Björn Lampe, Vorstand unserer Schwester betterplace.org, der Anja Adler und Joana Breidenbach Anfang Juni beim Wellbeing Summit for Social Change in Bilbao getroffen hat. Für alle drei war es die erste größere Konferenz seit Beginn der Pandemie. Worte wie “unvertraut”, “überfordert”, “viel zu viel” fallen bei der Beschreibung.
"Ganz persönlich war ich gestern oft überfordert. Es gibt einfach viel zu viel Angebote von morgens bis abends, Menschen, Prompts für Konversation, Produkte, Installationen. Ich versuche mich heute mehr auf Weniges einzulassen.", schreibt Anja nach dem ersten Tag in Bilbao ans Team in Berlin und fährt fort: ”In den Gesprächen habe ich immer wieder gehört, dass sich die Menschen mehr Zeit für Kommunikation untereinander und fürs Verdauen wünschen.” Sie ist nicht die einzige, die Bemerkungen wie diese bei/über Veranstaltungen aufschnappt. Viele, die sich in den letzten zweieinhalb Jahren hauptsächlich im Homeoffice aufgehalten haben, sind trubelige Veranstaltungen nicht mehr gewöhnt.
Am ersten Tag der re:publica, die eine Woche nach dem Summit in Berlin stattfindet, twittert eine Person, dass sie nach 15 Minuten weinend das Gelände der Arena, wo das 3-tägige Festival für die digitale Gesellschaft ausgerichtet wurde, verlassen hätte. Ein anderer hat sich nur in dem attraktiven Außenbereich (Badeschiff, Hoppetosse, etc.) aufgehalten, weil ihm drinnen viel zu viele Leute ohne Masken herumliefen. Für die meisten sind die Begegnungen mit Menschenmassen bei den ersten Konferenzen, Tagungen und Festivals nach der langen Veranstaltungspause durch die Pandemie ebenso ungewohnt wie aufregend.
“Es war sehr schön endlich mal wieder unbekannte Menschen außerhalb eines Bildschirms zu treffen, sich mit ihnen auszutauschen, sie kennenzulernen. Das Gleiche galt für kollektive Erlebnisse wie der gemeinsame Tanz aller Teilnehmer*innen. Gleichzeitig bleibt die Relevanz von Eigenverantwortung hoch: auch nach dem Summit in Bilbao gab es wieder Corona-Infektionen, die dort entstanden sind. Personal Wellbeing geht nicht ohne Verantwortung für die Mitmenschen um einen selbst herum.”, kommentiert Björn seine Erfahrung in Bilbao.
Auf die Frage, was ihn dort inspiriert habe, antwortet er, das sei zum Einen die starke Verknüpfung zwischen den "klassischen" Bildungsinhalten und den vielfältigen kulturellen Inputs gewesen. “Kunst spielte auf dem Summit eine gleichberechtigte Rolle und sorgte immer wieder für interessante Interventionen, was ein deutlicher Kontrast war zu sonstigen Konferenzen, an denen ich vor Corona teilgenommen habe. Das hat meine Wahrnehmung der drei Tage in Bilbao stark beeinflusst – im positiven Sinne. Außerdem fand ich es interessant zu erleben, in welcher Vielfalt sich Menschen in aller Welt mit dem Thema Wellbeing auseinandersetzen, Newcomer ebenso wie "alte Hasen". Daraus ergaben sich spannende Gespräche wie auch interessante Workshop-Erfahrungen.”
Joana, die sich seit vielen Jahren darum bemüht, dass das Thema Wellbeing in Deutschland ankommt, schreibt in ihrem Blogpost zum Summit: “Innerhalb von wenigen Jahren ist das Thema Wellbeing von einem Nicht-Thema (oder sogar Tabu), in vielen Bereichen des sozialen Sektors angekommen und wird von Changemakern und Aktivisten ernst genommen. Auch zahlreiche philanthropische Geldgeber haben die Bedeutung erkannt und fangen an, sich damit zu beschäftigen und Wellbeing-Initiativen zu finanzieren. Dabei können wir aber auch deutliche Unterschiede sehen: während Hunderte Teilnehmer aus dem globalen Süden nach Bilbao angereist waren und viele große amerikanische und europäische Stiftungen Vertreter geschickt hatten, waren die meisten deutschen Geldgeber nicht vor Ort. Und das, obwohl sie gezielt eingeladen worden waren. Im weltweiten Vergleich scheint das Thema Wellbeing in Deutschland noch wenig Resonanz zu erzeugen.”
Wie wichtig deshalb zu hören, wenn Björn in seiner Position als Vorstand sagt, dass sein Bewusstsein für die Notwendigkeit von Reflexion gestärkt worden wäre. “Gerade auch an mir selbst merke ich immer wieder, wie sehr mich der Alltag und seine Aufgaben in Beschlag nehmen und wie wenig Zeit bleibt, um einmal zwei, drei Schritte zurückzutreten und mit Abstand auf Themen oder Entwicklungen zu schauen. Gerade im Kontext der Corona-Pandemie ist dies aber umso mehr notwendig. betterplace.org hat in den letzten zweieinhalb Jahren eine rasante Veränderung durchlaufen und eine wirkliche Reflexion darüber hat bis dato noch nicht stattgefunden. Das wäre aber sowohl für das Wohlbefinden der Kolleg*innen als auch der Organisation an sich unbedingt noch notwendig.”
In Unternehmen, bei Förderern soll das Thema Wellbeing landen. Besonders erfreulich ist es dann, wenn Politiker*innen sich bereits angesprochen fühlen und die Notwendigkeit eines Umdenkens erkennen. Anjas Bericht von einer “Fireside Conversation” über Wellbeing und Policy, bei der zwei Minister aus Jordanien und Argentinien ein neues Narrativ für Wellbeing forderten, das nicht mehr wachstumsorientiert, exploitativ ist, sondern auf die Gesundheit von Planet und Menschen achtet. Auf dem Panel wurde auch immer wieder soziale Ungerechtigkeit als größte Herausforderungen für globales Wellbeing thematisiert, stellt Anja erfreut fest. Am meisten bewegt hat sie ein Kommentar von Juan Ignacio Maquieya, Executive Director einer Schule für politischen Nachwuchs in Buenos Aires, die vom Papst Franziskus eingerichtet wurde. Er spricht über eine neue Ausbildung für Politiker*innen, die lernen, zuzuhören. Sie werden in der Wahrnehmung ihrer drei Ebenen (Körper, Gefühle und Gedanken) geschult und zeichnen als eine der ersten Übungen gemeinsam ein riesiges Wandbild ab und schulen darüber Aufmerksamkeit und Wertschätzung.
Joanas Fazit nach den Tagen in Bilbao: Es ist viel zu tun! Ihre Beobachtungen in Form von zehn kurzen Thesen lest ihr hier.
Foto: Joana Breidenbach