Lebendige Dörfer mit Wir-Gefühl

In meinem 700-köpfigen Heimatdorf in Süddeutschland wurde es mir vor über 10 Jahren zu eintönig – ich entschied mich wegzuziehen. Außer der wunderschönen Natur nahm ich vor allem wahr, was im Vergleich zur Stadt alles fehlte. Mangelhafte Infrastruktur, kaum Ausbildungsmöglichkeiten oder Jobs, wenig kulturelles Angebot und Vernetzungsmöglichkeiten. Dorfkerne waren und sind noch immer oft von Leerstand geprägt. Wenn ein Geschäft schließt, gibt es in den seltensten Fällen eine*n Nachfolger*in.


Paradox! Während in den Städten die Mieten fast unbezahlbar hoch sind, liegen in ländlichen Gebieten Büro- und Gewerbeflächen brach. Ich habe mit dem Bürgermeister der Gemeinde Hamm (Sieg) Dietmar Henrich und der Sozialunternehmerin Anna Mauersberger gesprochen, um herauszufinden, welche Maßnahmen neues Leben in die Dörfer bringen könnten. Sie haben gemeinsam mit Anna Moll (Molle & Korn), Anselm Maria Sellen (HeartWire) und Lukas Dörrie (WesterwaldLAG Westerwald Sieg) das Wir-Dorf gegründet – eine Initiative mit dem Ziel, im Westerwald Potenzialflächen für zukunftsfähigen Wohnraum, Gewerbe und Natur zu erschließen.

"Wir wollen physische Orte finden, die wie eine Art alternativer Dorfplatz funktionieren, also Orte, wo im ländlichen Raum spontane Begegnungen stattfinden können.''
Anna Mauersberger

Neben der Suche nach gemeinschaftstauglichen Immobilien versteht sich das Wir-Dorf als Plattform für Projekte, welche in der Region etwas bewegen wollen. Willkommen seien alle, die sich sinnstiftend und gemeinwohlorientiert einbringen wollen – sowohl Menschen aus der Region, als auch von außerhalb.

Wohnen, Leben & Arbeiten im lebendigen Wir-Dorf

An Ideen mangelt es nicht. Pop-Up-Stores, Impact Hubs, Wir-Dorf-Läden oder fliegende Restaurants könnten zu Begegnungsflächen werden und Zugezogenen schnell ein Gefühl von Gemeinschaft vermitteln. Mehr-Generationen-Wohnen, Bed & Breakfasts und Jurten im Garten lüden Besucher*innen ein. Von gemeinschaftlich genutzten landwirtschaftlichen Flächen profitieren Mensch und Natur. In Coworking-Spaces verwirklichen Unternehmer*innen ihre Projekte.

In der ersten Phase entwickelte das Wir-Dorf eine klare Vision. Anschließend wurden die Fühler nach Potenzialflächen ausgestreckt. Aktuell sind verschiedene Orte wie der Bahnhof in Au (Sieg), ein Krankenhaus in Roßbach und ein genossenschaftliches Dorfgemeinschaftshaus in der Verbandsgemeinde Hamm (Sieg) im Gespräch. Im nächsten Schritt wird es darum gehen, Mitwirkende an Bord zu holen, die sich mit ihren konkreten Projekten bei der Umnutzung der Flächen gemeinschaftlich einbringen wollen.

Bestehende Netzwerke stärken – neue Verbindungen schaffen

Anna ist vor einiger Zeit zu ihrer Patchworkfamilie von Berlin in den Westerwald gezogen. Sie sieht vor Ort bereits viele sinnvolle Strukturen, die von mehr Sichtbarkeit profitieren würden. Wünschenswert sei dafür auch eine noch engere Kollaboration mit den “Alteingesessenen”.

“Die Netzwerke, die schon bestehen, sollen gestärkt werden, so dass wir hier zu einer größeren Lebendigkeit im Westerwald finden.”
Anna Mauersberger

Dietmar sieht einen Schlüssel darin, die Angebote an den echten Bedarfen der Menschen auszurichten und zu schauen, was tatsächlich gebraucht wird. “Was bringt es, eine Halfpipe zu bauen, sich dafür auf die Schulter zu klopfen und sich dann zu wundern, warum kein Kind hingeht?”, erläutert er. Die Altersstruktur in den Gemeinderäten sei hoch und es gelte, ein Bewusstsein für neue, spannende Ansätze zu schaffen. “Es gibt viele interessante Personen aus dem städtischen Bereich, die im ländlichen Raum ihre Entfaltung suchen – dieser Austausch kann sich befruchten.” Laut Anna brauche es Menschen mit einem digitalen Mindset, die keine Angst haben zu scheitern, mit wenigen Mitteln loslegen und im Prozess schauen, was sich daraus ergibt. Darin liege die Zukunft des ländlichen Raums.

Kollaboration stärkt die menschliche Ebene

Ein halbes Jahr lang haben wir innerhalb des betterplace co:lab-Clusters gemeinsam mit der Organisationsentwicklerin Pia Schröder das Wir-Dorf begleitet und die Zusammenarbeit der Akteur*innen auf den Weg gebracht. Eine Grundannahme des durch die Schöpflin Stiftung und die Luminate Stiftung geförderten Programmes betterplace co:lab ist, dass komplexe Herausforderungen das Zusammenwirken von Akteur*innen aus unterschiedlichen Bereichen brauchen. Im Wir-Dorf-Cluster trafen ein Bürgermeister, ein Regionalmanager, eine Sozialunternehmerin, eine Kreativagentur und ein Bildungsaktivist mit ihren verschiedenen Perspektiven aufeinander. In Arbeitstreffen von insgesamt 20 Stunden handelte das Cluster (Was ist ein Cluster?) Ziele und Erwartungen aus, je nach vorhandenen Kompetenzen wurden Rollen und Verantwortlichkeiten festgelegt. In System Thinking Sitzungen loteten die Beteiligten das gemeinsame Vorhaben mit ihren vielfältigen Perspektiven aus. Als Instrument für die kollaborative Aushandlung diente unter anderem das vier Quadranten Modell. Wie ihr damit arbeiten könnt, lest ihr hier.

Das AQAL (All Quadrant – All Levels) Modell nach Ken Wilber

Auf meine Frage, wie sie die Zusammenarbeit während der Prozessbegleitung empfunden haben, meinte Anna, für sie sei die Arbeit im Cluster vor allem wertvoll für ihr menschliches Zusammenwirken gewesen. “Es war hilfreich, immer wieder zu hören, wo die anderen stehen und welche unterschiedlichen Perspektiven es gibt.”. Anschließend wäre sie allerdings gerne nochmal tiefer ins Inhaltliche eingetaucht: “Die Treffen waren nach zwei Stunden vorbei. Hier wurde es eigentlich gerade juicy.” Dietmar beschreibt die Zusammenarbeit im Cluster als ungewohnt, aber bereichernd:

“Für mich war es erstmal befremdlich, aus einer Meta-Perspektive auf unser Projekt zu schauen. Aber das macht ja mitunter den Reiz aus – diese unterschiedlichen Perspektiven und Charaktere zusammenzubringen.”
Dietmar Henrich

Wer sich aus der Ferne einbringen oder sich zum Thema Co-Living mit dem Wir-Dorf austauschen möchte, kann sich für einen Newsletter anmelden.

Wie im Westerwald gibt es deutschlandweit viele Regionen, die ähnliche Wege gehen. Auch in meinem Heimatdorf tut sich etwas. Nachdem es jahrzehntelang keinen Einzelhandel mehr gab, hat im Ortskern ein Nahversorgerladen à la Tante Emma eröffnet. Er hat rund um die Uhr geöffnet, bezahlt wird an der SB-Kasse. Ein Späti auf dem Dorf! Ein neuer Treffpunkt. Ein Grund für mehr Wir-Gefühl.

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Die erste Folge in der Resilienz-Reihe