“Wenn man es genau bedenkt, ist vom Anfang aller Tage an alles immer schlechter geworden. Luft und Wasser sowieso, dann die Manieren, die politischen Persönlichkeiten, der Zusammenhalt unter den Menschen, das Herrentennis und das Aroma der Tomaten. Ja, der Globus hat Homo sapiens, und dessen einzige sichere Zukunft ist die Krise, der wir immer neue Namen geben, Namen wie Klimaerwärmung, Übersäuerung der Meere, Abschmelzen der Gletscher, Migration, Burnout, Dürre, Glaubens- und Handelskriege, Ansteigen des Meeresspiegels, Austrocknung der Wüsten, Ressourcenknappheit, Überbevölkerung, Artensterben, multiresistente Keime. Wir können es nicht mehr hören, nicht wahr?” (aus: Roger Willemsen (2016): “Wer wir waren”, S. 8f.).
Ist Krise der Normalzustand? Was sagt “Krise” dann überhaupt aus? Und wie hat sich unser Verhältnis zur Krise in den letzten Jahren verändert? Diese Fragen sind grundlegend für unsere Forschungsarbeit im Bereich der (systemischen) Resilienz.
Die große Krisenkonstruktion
Wir leben beständig in Krisenzeiten. Nach Prisching (1986) ist die Krise die “Grundstimmung einer Epoche” und nach Koselleck (1982) hat sich die Krise “zur strukturellen Signatur der Neuzeit” entwickelt. Doch Krisen sind diskursive und gesellschaftlich konstruierte Phänomene, und das, was als krisenhaft gilt, ist “nicht ein für alle Mal definierbar, sondern abhängig von den jeweiligen Relevanzkriterien, und diese unterliegen historischem Wandel und sind kulturell unterschiedlich” (Nünning 2013). Entsprechend schwer zu fassen, ist der Krisenbegriff – und erfreut sich frequenter Nutzung.
Medial sorgen Krisen für geschärfte Aufmerksamkeit, befriedigen die Sensationslust und steigern die Auflage. Politisch werden Krisen im Kampf der verschiedenen Deutungs- und Interpretationsmustern instrumentalisiert. In jeder Krisenkonstellation gibt es verschiedene gesellschaftliche Kräfte und Akteur*innen, die unterschiedliche Interessen in Bezug auf die Krisendiagnose und die daraus resultierenden Therapien besitzen.
Ist die Krise deshalb das “neue Normal”? Für Reckwitz (2018) befinden sich moderne Gesellschaften strukturell “im Modus der Dauerkrise”, moderne Menschen lassen sich gar als “Krisenwesen” charakterisieren (Schulze 2011). Die Krise wird so normalisiert und verliert das Dramatische. Die Frage nach den kritischen Schwellenwerten und Maßstäben für Krisen sowie nach der empirischen Messbarkeit und theoretischen Begründung von Krisen “ist eine der ungelösten, theoretisch abstrakt vielleicht auch nicht vollends lösbaren Fragen der Krisentheorie” (Merkel 2015). Dennoch sollten wir uns die Mühe eines Definitionsversuchs machen.
Wir kriegen die Krise: eine Definition
“In der griechischen Antike hat der Begriff die Bedeutung von Leben oder Tod (Medizin), Recht oder Unrecht (Jura) bzw. Heil oder Verdammnis (Theologie). In römischer Zeit fokussiert der lateinische Begriff crisis auf den Medizinbereich. Die Krise ist hier der Höhepunkt einer Erkrankung, die zu Heilung (Leben) oder Gefahr (Tod) führt; in China wird der Begriff Krise durch zwei Schriftzeichen dargestellt, die die Bedeutung von Gefahr (wei) und Chance/Gelegenheit (ji) haben” (Bünder 2020).
Krise bezeichnet also eine „(Ent-)Scheidung“, eine „entscheidende Wendung“ und bedeutet eine „schwierige Situation, Zeit, die den Höhe- und Wendepunkt einer gefährlichen Entwicklung darstellt“ (Duden). Dass es sich hierbei um einen Wendepunkt handelt, kann jedoch oft erst konstatiert werden, nachdem die Krise abgewendet oder beendet wurde. Nimmt die Entwicklung einen dauerhaft negativen Verlauf, so spricht man von einer Katastrophe – der Ausgang ist im Begriff “Krise” allerdings offen. Neutral formuliert führen Krisen zu Entwicklungen, von denen ungewiss ist, ob sie sich ohne Krise vollziehen würden oder vollzogen hätten. Insofern beinhaltet jede Krise tatsächlich eine Chance, ganz nach der Philosophie Churchills (“Never waste a good crisis.”).
Allerdings ist nicht jede kritische Situation bereits eine Krise. Krisen bestehen im Allgemeinen aber aus einer Ansammlung kritischer Situationen. Kritisch bedeutet hierbei, dass es sich um für den weiteren Verlauf des Gesamtprozesses entscheidende Phasen handelt. Kritische Situationen können dabei geplant sein, vorhersehbar sein oder völlig unerwartet eintreten. Steg (2020) hat einige Charakteristika von Krisen zusammengetragen:
Krise ist die nicht-intendierte Abweichung von der Normalität.
Krisen lassen sich grundsätzlich als sich zuspitzende Entscheidungsphasen mit prinzipiell offenem Ausgang fassen. Als Resultat vorangegangener Ereignisse und als Vorstadium zukünftiger Entwicklungen sind sie sowohl Entwicklungsprodukt als auch Entwicklungsproduzent und determinieren den weiteren Verlauf des in die Krise geratenen Phänomens
Diese Phasen der Zuspitzung sind als Krise dramatisch, weil die Gesellschaft, ein gesellschaftlicher Zusammenhang oder ein Organismus an die Grenzen der Funktionsfähigkeit, der Identität oder gar des Bestandes gerät. Dabei wohnt Krisen eine spezifische Eigenlogik und Eigendynamik inne, sodass sie sich in gewissem Umfang der Kontrolle und Steuerung entziehen. Krisen und die Auswirkungen von Krisen lassen sich niemals vollumfänglich beherrschen, da es sich um Prozesse handelt, die nicht mehr im ursprünglichen Bearbeitungsmodus bewältigt werden können.
Krisen offenbaren Fehlentwicklungen, sodass bisherige Routinen und Regeln, gewohnte Handlungsformen, Denkweisen, Strukturmuster und Ordnungssysteme zur Disposition stehen, und eröffnen Kritik-, Interventions- und Gestaltungsoptionen.
Da ihr Ausgang prinzipiell offen ist, produzieren Krisen systematisch ein Moment der Unklarheit, Unsicherheit und Ungewissheit und verweisen auf eine kontingente Zukunft.
Nicht eine Krise, sondern viele: die Polykrise
“In den vergangenen beiden Jahrzehnten sahen wir uns mit der so genannten Flüchtlings- und Migrationskrise, mit der Banken-, Finanz- und Wirtschaftskrise, der Staatsschulden- und Eurokrise, der Krise der Demokratie, der (Volks-)Parteien und der Repräsentation, der Krise des Sozialstaats, mit der Medienkrise, der Bildungskrise und der demographischen Krise konfrontiert. Hinzu kommen humanitäre Krisen sowie innergesellschaftliche bzw. zwischenstaatliche Konflikte und Kriege, die als Krisen wahrgenommen werden. Nicht zu vergessen schließlich Beziehungs-, Ehe- oder Familienkrisen und individuelle Krisen wie Depression, Burnout oder Midlife-Crisis. Beständig befinden sich einzelne Wirtschaftsbranchen oder Unternehmen in einer Krise, Sportler*innen und Sportvereine wiederum wissen von Form- oder Ergebniskrisen zu berichten” (Steg 2020).
Der Krisennavigator – Institut für Krisenforschung, ein Spin-Off der Universität Kiel – erfasst alle internen oder externen Ereignisse, durch die akute Gefahren drohen für Lebewesen, für die Umwelt, für die Vermögenswerte oder für die Reputation eines Unternehmens bzw. einer Institution und kommt auf einen Wert von über 40.000 Krisen pro Jahr. Auch wenn das breite Spektrum der “Krisen” bereits darauf hindeutet, dass einige krisenhafter (da für ihr System existenzgefährdender) als andere sind, fällt allein die schiere Menge auf. Wir leben in Zeiten der Umbrüche.
„Wir sind in eine Zeit beispielloser und destabilisierender Veränderungen eingetreten: eine völlig neue Ära der menschlichen Gesellschaft und Wirtschaftsorganisation – was ich das exponentielle Zeitalter nenne“ (Azhar 2021). Die Welt verändert sich durch die Digitalisierung in einem enormen Tempo. Der Entscheidungs- und Gestaltungsdruck ist entsprechend hoch. Der Anspruch, den Wandel zu gestalten, stößt und scheitert laut Azhar (2021) in der Realität jedoch auf eine exponentielle Lücke (“exponential gap”) zwischen rapider technologischer Entwicklung auf der einen, und alten Institutionen, Werkzeugen und Denkmustern auf der anderen Seite. Hinzu kommt, so seine These, dass wir zum jetzigen Zeitpunkt kaum in der Lage sind, zukünftige technologische Entwicklungen einzuschätzen oder gar zu prognostizieren.
So entstehen und werden auch in absehbarer Zeit eine ganze Reihe neuer Krisen entstehen, die jedoch nicht mehr singulär betrachtet und gelöst werden können. Der französische Philosoph und Komplexitätstheoretiker Edgar Morin (1999) schuf dafür den Begriff der Polykrise (heute manchmal auch: Stapelkrise).
Eine Polykrise lässt sich definieren als eine Situation, in der das Ganze gefährlicher ist als die Summe seiner Teile. Oder anders gesagt: Die einzelnen Krisen existieren nicht einfach nebeneinander, sondern beeinflussen sich gegenseitig. Sie sind über vielfältige Wirkungskanäle miteinander verbunden. Die Komplexität steigt in einer globalisierten, multi vernetzten und interdependenten Welt.
Die Krisen der Einzelnen verschärfen unsere gesellschaftlichen Krisen
In all den Krisen gibt es auch eine individuelle Ebene, der sich üblicherweise die Psychologie zuwendet. Dort wird “Krise als der entscheidende bzw. problematische Punkt oder auch Abschnitt im Verlauf einer Entwicklung, Krankheit oder Interaktion bezeichnet.” Dieser Punkt ist nach Cullberg (1980) “durch den Verlust des seelischen Gleichgewichts gekennzeichnet, wenn ein Mensch mit Ereignissen oder Lebensumständen konfrontiert wird, die er im Augenblick nicht bewältigen kann, weil sie seine bisherigen Problemlösungsfähigkeiten übersteigen”.
Zusammengefasst ist eine Krise also ein Moment der Entscheidung, da bisherige Systeme, Abläufe und Routinen (aufgrund äußerer oder innerer Veränderungen) nicht länger funktionieren. Gleichzeitig zeichnen sich individuelle Krisen gerade dadurch aus, dass der Mensch die Eigendynamik eines Geschehens erlebt, ohne selbst wirksam werden zu können – mit emotionaler Destabilisierung, Kontrollverlust und Lähmung als mögliche Folge. In diesem Zustand sind klare Entscheidungen und Handlungen kaum möglich; es kommt zu negativen Rückkopplungseffekten, die Krise verschlimmert sich.
In Zeiten großer Unsicherheit steigt die Wahrscheinlichkeit individueller Krisen – und damit verringert sich gewissermaßen gleichzeitig der Spielraum, die systemischen Krisen zu lösen.
Was tun in der Krise?
Jean-Jacques Rousseau war 1762 der erste Theoretiker, der den Begriff der Krise in einem modernen Sinn verwendete und Krisen mit politisch-sozialen Revolutionen in Verbindung brachte. Rousseaus Überlegungen markieren einen bedeutsamen Wendepunkt, da er unter Krise nicht nur die Wahl zwischen Katastrophe und Wiederherstellung der alten Ordnung verstand, sondern sie auch als Augenblicke des gesellschaftlichen Transformation betrachtete.
Damit deutete Rousseau im Prinzip auf das heutige Verständnis von Resilienz hin: Resilienz wird zur Fähigkeit eines Systems, adäquat auf Rückschläge zu reagieren, indem es sich an neue Rahmenbedingungen anpassen kann – sich also kontinuierlich fortentwickelt.
In Anbetracht der kommenden (Poly-)Krisen und der damit verbundenen individuellen psychischen Belastungen, wird die Herstellung und Stärkung der systemischen gesellschaftlichen Resilienz essentiell in den nächsten Jahren. Wie schaffen wir gesellschaftlich das Rüstzeug, um gemeinwohlorientierte, zukunftsgewandte Entscheidungen zu treffen, ohne die gesellschaftliche Spaltung zu vertiefen? Die notwendige und stetige Balance aus Stabilität und Kontinuität einerseits sowie Flexibilität und Öffnung andererseits wird eine zentrale Herausforderung unserer Zeit.
In unserem Forschungsvorhaben "Die resiliente Zivilgesellschaft", gefördert durch die Deutsche Stiftung für Engagement und Ehrenamt, untersuchen wir Möglichkeiten zur Resilienzstärkung auf organisationaler wie sektoraler Ebene.