Begeisterte Kommentare auf Twitter und Youtube unter Videos, die zeigen, wie ein Kiewer Pilot in den ersten Kriegstagen zwei SU-35, eine SU-27, eine MiG-29, und zwei SU-25 abschießt. Am Ende stellt sich heraus, dass der „Ghost of Kiev“ die Kampfhubschrauber und das Flugzeug in einem Videospiel vom Himmel geholt hat.
Desinformation als Kommunikation wissentlich falscher, irreführender, manipulierter oder frei erfundener Inhalte ist nicht nur Teil von Kriegspropaganda. Auch in Friedenszeiten wird Desinformation gezielt eingesetzt und manipuliert Massen.
Dabei ist das Phänomen Desinformation so komplex wie umfangreich. Viele kleine und große, staatliche, nicht staatliche und freiwillige Initiativen erarbeiten Wege und Lösungen, um die Auswirkungen von Desinformation zu erkennen und einzudämmen. Sinnvollerweise ergänzen sich die unterschiedlichen Maßnahmen. Da lag es nahe, Desinformation zum Fokus eines Themenclusters im betterplace co:lab Programm zu machen. 2020 bildete sich eine Gruppe interessierter Akteur*innen für die Zusammenarbeit, bestehend aus betterplace lab, codetekt, SpreuXWeizen und Facts for Friends, sowie den Einzelpersonen Anna Wohlfahrt und (etwas später) Anja Zimmer. Klar war dabei von Anfang an, dass das Thema Desinformation übergreifend und ganzheitlich angegangen werden sollte. Alle waren sich einig, dass hier bereits viel wichtige Arbeit geleistet wird, doch Akteur*innen bleiben dabei meist recht isoliert im eigenen Bereich wie Fact-Checking, Nachrichtenkompetenz oder Regulierung. Um für ein so umfangreiches wie vielschichtiges Phänomen mögliche Schwerpunkte der Kollaboration zu finden, war zunächst ein Prozess der Reflexion und Abgrenzung nötig.
Wir hatten nicht von Anfang an ein klares Ziel, ein klares Projekt (...) Es war auch Teil des Prozesses, dass wir das gemeinsam finden.
Optionen für erstrebenswerte Ziele gab es viele – vom Aufbau einer Allianz, um eine wirkmächtige Front zu etablieren, die das Thema stärker im öffentlichen Diskurs verankert und systemische Antworten auf die komplexe Herausforderung Desinformation findet, über das Aktivieren wichtiger weiterer Akteur*innen bis hin zur Beeinflussung von Gesetzgebung.
Innere Arbeit als Fundament für die Meta-Perspektive
Neben der Entscheidung über Fokus und Ziele galt es, die eigene Dynamik zu reflektieren: Wie stehen wir in Bezug zueinander? Welche Vorerfahrung bringen wir mit? Wie können wir explizit machen, in welchen verschiedenen Rollen und Positionen wir sprechen? Um diese systemischen Fragen und die Reflexion zu begleiten, stand Bettina Rollow dem Cluster unterstützend zur Seite.
Dass es für gute kollaborative Arbeit wichtig ist, diese Fragen zu klären und die Bedingungen klar abzustecken (zeitliches Commitment der Beitragenden, Rollenverteilung, Frage nach Führung), war auch Anja Zimmer von Anfang an bewusst. Sie hat sich viel mit Desinformation befasst und stieß als langjährige Direktorin der Medienanstalt Berlin Brandenburg einige Wochen nach Start des Clusters zur Gruppe hinzu.
Ich habe über 12 Jahre mit ehrenamtlichen Gremien gearbeitet - und man scheitert dabei oft ein Stück auch an mangelnder Zeit und an - durch die vielen Themen - unterschiedlichen Interessen. Wenn man einen systemischen Blick auf ein Problem wirft, frage ich mich, wie wir ehrenamtliche Arbeit so gestalten können, dass sie nicht zu einer zusätzlichen Belastung wird. Wie setzen wir für uns Grenzen?
Ergebnis der ersten Phase des Kollaborationsprozesses war schließlich die Einigung auf den Aufbau einer Allianz gegen Desinformation. Um aus einzelkämpferischen Organisationen eine Allianz zu bilden, bedarf es die Weitung des Blickfeldes der einzelnen Beteiligten über ihr zugeschnittenes Gebiet hinaus, bei gleichzeitiger Fokussierung auf ein gemeinsames Ziel. Dieser übergeordnete Blick stellt sich selten von alleine ein – er ist das Ergebnis von Selbstreflexion und der Verortung im Feld mit anderen. Der Fokus auf diese Ebene wurde stets von der Organisationsentwicklerin Bettina Rollow fazilitiert.
Ein Mehrwert lag darin, dass Bettina sehr gut strukturiert hat. Wenn so viele Perspektiven zusammen kommen, verliert man ja leicht den roten Faden. (…) Sie hat uns alle immer wieder darauf zurückgebracht, warum wir das gemeinsam machen. Wir alle sind natürlich Experten in unseren Themen (…) und diskutieren Lösungen, aber das ist nur 50 Prozent der Miete. Die andere Hälfte ist die übergeordnete Ebene, auf der wir uns damit beschäftigen, wie Zusammenarbeit funktioniert, wie wir etwas erreichen und nicht nur weitere Arbeit schaffen, die dann zu einer Überlastung der ohnehin schon vollen Terminkalender wird.
Dank eines Projekts rein ins Konkrete
Im Rahmen eines Projektantrags von Das NETTZ – der Vernetzungsstelle gegen Hate Speech, ein bestehendes Projekt im betterplace lab – konnte das Unterfangen auf eine sehr konkrete Ebene gebracht werden: Um das Feld Desinformation differenziert zu betrachten, sollten eine interaktive Online-Karte entwickelt und eine Studie durchgeführt werden, die das Themenfeld aus einer holistischen Perspektive betrachtet.
Natürlich gilt es bei einem solchen Vorhaben Arbeitspakete zu verteilen und Deadlines einzuhalten. Die vorherigen Introspektionen wichen immer öfter regulärem Projektalltag. Die Suche nach dem Fokus war jedenfalls keine Frage mehr, sondern es ging eher ums Machen und einen guten Informationsfluss zwischen den Beteiligten.
Es war ein relativ krasser Switch.: Auf einmal war klar, dass wir das irgendwie in einem relativ engen Zeitrahmen umsetzen müssen und zwar mit den relativ begrenzten Ressourcen, die alle Organisationen hatten.
So arbeitete das Cluster in den letzten drei Monaten intensiv an der Umsetzung der interaktiven Karte und Studie. Die Leitung der Koordination übernahm Katja Jäger aus dem betterplace lab. In dieser von hohen Qualitätsansprüchen und engen Zeitfenstern geprägten Phase wurde es notwendig, innerhalb der Kollaboration kooperativ zu arbeiten: Klassische Arbeitsteilung im Konkreten wich dem zuvor gemeinsamen Blick auf das große Ganze. Zudem war weniger Zeit für Reflexion auf der Ebene des Miteinanders. Dass die Strukturen sich vom Horizontalen ins Vertikale verschoben, mag auf den ersten Blick weniger ins ursprünglich angedachte Setting passen, gleicht dieses nun doch eher dem recht bekannten Projektalltag. Jedoch ist ganz und gar nicht auszuschließen, dass innerhalb einer Kollaboration Aufgaben entstehen, die sich nur kooperativ lösen lassen. Kollaboration heißt schließlich nicht, alle machen alles. Wichtig ist, dass die Expertisen der Beteiligten an den richtigen Stellen einfließen und sich die Gruppe immer wieder fragt, welche Form der Zusammenarbeit für die anstehenden Aufgaben die richtige ist.
Produkte des Kollaborationsprozesses und Ziele, die sich nicht erfüllen ließen
Auf der entstandenen Website wird Desinformation als Wertschöpfungskette nachvollziehbar gemacht. Anhand von drei Stories wird erzählt, wie die Initiator*innen es schaffen, Desinformation so zu platzieren, dass Menschen beeinflusst werden. Gelauncht wurde die interaktive Karte zusammen mit der Studie “Desinformation und das Ende der Wahrheit”.
Für mich ist die Zusammenarbeit auf der Ergebnisebene ein Erfolg: Nur durch die unterschiedlichen Perspektiven, die wir von Anfang an am Tisch versammelt hatten, konnten und mussten wir uns mit den unterschiedlichen Facetten von Desinformation auseinandersetzen. So ist nun eine Arbeit entstanden, die das Problem aus diversen Expertisefeldern aufspannt und dadurch bearbeitbar macht. Unser Ergebnis ist erst der Beginn für die Lösung des Problems, doch es ist ein guter Anfang!
Dem hehren Ziel allerdings, eine Allianz gegen Desinformation zu gründen, konnte das Cluster nicht gänzlich gerecht werden. Zu Beginn war dieses Ziel zwar oft Gegenstand der Diskussion – doch wurde den Teilnehmenden schnell bewusst, dass es ob der Komplexität und Langfristigkeit in einem größeren Kreise bearbeitet werden müsste. Zudem wurde ersichtlich, dass man sich gar nicht so leicht von der eigenen institutionellen Verankerung lösen kann: So blieben die Fact-Checker*innen nah dran an der Frage, wie man diesen Bereich stärken könnte, die Medienpädagog*innen fühlten sich am ehesten dem Thema Schulbildung verpflichtet.
So wichtig solch tiefergehende Expertise ist für die Ausarbeitung von Strategien in den spezifischen Bereichen: Unser Wunsch war es, eine übergeordnete Perspektive zu entwickeln und in Maßnahmen übersetzbar zu machen, die dem komplexen Themenfeld gerecht werden. Das ist in dem Kreis und in der Zeit nicht gelungen. Für zukünftige Vorhaben dieser Art ist festzuhalten, dass ein Abklopfen der eigenen (institutionellen) Ziele, Finanzierungs-Logiken und -Verpflichtungen essentiell dafür ist, wie frei und breit man ein Thema denken kann. Zudem ist die Klärung wichtig, wer von den Beteiligten fähig und willens ist, in einer komplexen Ausgangslage den Rahmen zu bauen, in dem dann konkrete Arbeitsschritte umgesetzt werden können. Einige sind davon inspiriert, solche großen Entscheidungen auszuloten und zu fällen. Andere fühlen sich eher wohl, im abgesteckten Rahmen ins konkrete Tun zu kommen. Innere Klarheit und geteilte Transparenz darüber, in welchem Metier man sich zuhause fühlt, sind die Voraussetzungen für eine kompetenzbasierte Aufgabenteilung.
Abschließend bleibt festzuhalten: Will man eine Allianz bauen, die schlagkräftig ist, um ein so komplexes wie großes Problem wie Desinformation einzudämmen, braucht es mehr Akteur*innen, mehr Zeit, mehr institutionelle Freiheit und mehr Reflexion.
Foto: Markus Spiske | Unsplash