Die Welt, wie wir sie kennen, ist zum Stillstand gekommen. In dieser unheimlichen Pause können wir die Kluft sehen, die Kluft zwischen der gewohnten Welt, die uns mitsamt ihrer Dysfunktionalitäten vererbt wurde, und und einer möglichen, besseren Zukunft: eine Gesellschaft und Wirtschaft, die gerechter, gesünder und respektvoller gegenüber planetarischen Grenzen ist. Doch damit sich dieser Übergang vollzieht, brauchen wir eine neue Art der Führung. Wir brauchen Menschen, die die richtigen Mindsets und Skills haben, um die komplexe Transformation vom nationalen-industriellen zum globalen-digitalen Zeitalter zu navigieren.
Aufgrund meiner eigenen Erfahrungen mit neuen selbstorganisierten Formen der Führung in einem Sozialunternehmen, werde ich ein paar Lektionen skizzieren, die ich über die letzten fünf Jahre gelernt habe. Diese sind, so glaube ich, höchst zutreffend für die unbeständige und unsichere post-COVID-19 Ära, und kann Unternehmen, die die gegenwärtige Transformation navigieren, als Anleitung dienen.
2. Der Coronavirus Stresstest hat Impact Unternehmen geschadet
Aber bevor wir uns der Führung widmen, lasst uns die gegenwärtige Situation vieler Sozialunternehmer und Impact Unternehmen in Europa anschauen.
Wir sind mit einem Gegensatz konfrontiert: In der letzten Dekade haben eine zunehmende Anzahl von Sozialunternehmern agile und innovative Antworten zu ökologischen und sozialen Herausforderungen entwickelt. Ihre marktbasierten Geschäftsmodelle versprachen Unternehmen nachhaltiger zu machen, sowie reaktionsfähiger den tatsächlichen Bedürfnissen der Kunden und Auftraggeber gegenüber.
In der gegenwärtigen Krise gehen diese Qualitäten jedoch nach hinten los. Während sich die Wirtschaft halb im lockdown befindet, wurde die Produktion vieler Güter und Dienstleistungen, die von diesen Firmen angeboten wurden, eingestellt, und mit ihnen der gesamte Umsatz. Ein prominentes Beispiel ist Dialog im Dunkeln. Dieses etablierte Sozialunternehmen, das in Hamburg sitzt und sehenden Menschen erlaubte, die Welt der Blinden zu erfahren, musste schließen, nachdem sie 90% ihres Umsatzes verloren.
Wie die meisten Sozialunternehmen, die ihre Kosten decken müssen, hatte das Unternehmen nicht genug finanziellen Puffer um einen derartigen Einnahmeverlust zu überleben. Auch den Kriterien, nach denen die Deutsche Regierung Rettungspakete zur Verfügung stellt, entsprach es nicht, da gemeinnützige Sozialunternehmen für kommerzielle Kredite nicht in Frage kommen.
Daher kommt die Krise scheinbar mehr den traditionellen NGOs zugute, welche auf langfristige Förderungen von Stiftungen oder öffentlichen Einrichtungen angewiesen sind, von welchen wenige ihre Unterstützung zurückgezogen haben. Die agileren und dynamischeren Initiativen, welche auf kurzfristige Finanzierung angewiesen sind, um schnell auf akute Bedürfnisse (wie der Zuzug von zahlreichen Geflüchteten 2015/16 oder COVID-19) zu reagieren, sind in einer um einiges schwierigeren Situation, da die meisten Geldgeber zurzeit zögerlich sind neues Geld zu investieren.
Die gegenwärtige Situation ist gefährlich, weil viele neue, digitale, agile und dynamische Sozialunternehmen, die gut aufgestellt sind um die “wicked problems”, mit denen wir konfrontiert sind, in Angriff zu nehmen, in Gefahr sind, durchs Raster des Markts sowie der Hilfemaßnahmen zu fallen. Wenn wir ein dynamisches impact Ökosystem schaffen wollen, müssen wir diesen neuen NGOs, Sozial- und Impact Unternehmen dringend maßgeschneiderte Unterstützung zukommen lassen.
3. Komplexe, chaotische Umfelder zu navigieren erfordert neue Führungskompetenzen
Nicht alle Impact Unternehmen leiden. Diejenigen, die über eine starke digitale Komponente und/oder einem profitorientierten Geschäftsmodell verfügen, sind sehr gut positioniert um in dem neuen Umfeld zu gedeihen. Diese schließen innovative und oft lokale Lösungen in essentiellen Industrien wie Energie, Essen und Mobilität ein. Sie basieren auf antifragilen Systemen (Taleb), was bedeutet, dass sie dezentralisiert, open source, umweltfreundlich und veränderungsfähig sind.
Damit diese vielversprechenden Ansätze in einer zunehmend chaotischen und instabilen Welt Erfolg haben können, brauchen wir neue Arten von Führung. Der hierarchische Kommando-und-Kontrolle Stil, ein Unternehmen zu führen, mag für die mehr berechenbare, standardisierte industrielle Welt geeignet gewesen sein. Aber er erweist sich als zu starr, langsam und verschwenderisch mit Talenten für die gegenwärtige Ära, die nicht nur mehr komplex ist, sondern auch unter den Zwillingsbedrohungen des Klimakollaps und der gesellschaftlichen und politischen Fragmentation operiert.
Um diese schnelllebige und unsichere Welt zu managen, haben Unternehmen und Organisationen seit einigen Jahren versucht, agiler und reaktionsfähiger zu werden. Sie haben Hierarchien abgeflacht, fixe Rollenbeschreibungen abgeschafft und Remote-Arbeit eingeführt. COVID-19 hat diesen Trend beschleunigt, da #homeoffice plötzlich eine Mainstream-Erfahrung geworden ist. Durch diese Verschiebung in Richtung größerer Autonomie und selbst-management, sind Gründer und Führungskräfte mit neuen Fragen konfrontiert: Wie kann ich ein dezentralisiertes Team managen? Wie kann ich effektiv in einem Netzwerk kommunizieren? Wie kann ich meine Mitarbeiter motivieren und die Qualität ihrer Arbeit kontrollieren?
Dezentrale und selbstorganisierte Teams benötigen sehr verschiedene Führungsskills. Führungsfunktionen wie Strategieentwicklung, Rekrutierung oder Qualitätskontrolle sind plötzlich nicht mehr in der Chefetage konzentriert, sondern auf das gesamte Team verteilt. Dies benötigt einen ganz anderen Fluss an Information sowie andere Entscheidungsfindungsprozesse und Kontrollmechanismen.
Doch, wie ich im betterplace lab lernte, sind diese Umstrukturierungen zum Scheitern verurteilt, wenn sie nur externe Strukturen und Prozesse verändern. Als ich als Chefin zurückgetreten bin und das Team und ich Selbstorganisation einführten, lernten wir, dass Transformation, um nachhaltig zu sein, holistischer sein muss und von jedem Teammitglied neue innere Kompetenzen verlangt.
Warum müssen wir unser inneres Wesen – unsere Gefühle, Bedürfnisse, Werte und Mindsets – in den Veränderungsprozess integrieren? Nun, in der Folge von sich auflösenden traditionellen Strukturen, verlieren wir unsere gewohnten externen Markierungen für Sicherheit und Orientierung (der Chef, die Regeln, etc.). Aber weil Sicherheit und Stabilität fundamentale menschliche Bedürfnisse sind, müssen wir diese anderswo finden: in einer unbeständigen und ungewissen externen Welt, kann dies nur in uns selber und in unseren Beziehungen sein.
Führungskräfte (sowie Teammitglieder) müssen psychologisch wachsen; sie müssen ihre Werte kennen, wissen, was sie produktiv macht, und wie sie sich selber organisieren können. Da es in vielen Situationen an formellen Prozessen mangelt, müssen sie viel transparenter mit ihren Kollegen kommunizieren. Und sie müssen lernen, die Ängste und Befürchtungen zu managen, die zweifellos ihre Arbeit begleiten werden.
4. Burnout überwinden und eine Kultur des Wohlbefindens etablieren
Dieser neue Fokus auf innere Kompetenzen ist umso wichtiger, da viele Sozialunternehmer und Führungskräfte bereits psychologisch mit sich ringen. Forschungsergebnisse unter Sozialunternehmer-Netzwerken und co-working spaces sind alarmierend: Weit über 50% der Gründer und Mitarbeiter berichten von Burnout und Depression, bis zu 75% konsumieren regelmäßig Alkohol oder Drogen um mit Stress umzugehen. Und viele Pioniere befinden sich in finanziell prekären Situation.
Es gibt viele Gründe für diese Krise des Wellbeings: Die meisten Gründer und Führungskräfte bekämpfen tiefgreifende soziale und umweltliche Probleme. Sie sind höchst selbstmotiviert und haben eine Tendenz dazu, sich aufzuopfern, während sie gleichzeitig mit beschränkten und oft ungenügenden Ressourcen arbeiten. Gründer haben sich ihrerseits lange darauf fokussiert, Betriebskosten zu reduzieren, was zu einem chronischen Mangel an Investitionen in Kapazitätsbildung im sozialen Sektor geführt hat. Obendrein hat die COVID-19 Krise den Stresspegel in den meisten Unternehmen erheblich erhöht.
Das alles führt zu einem erheblichen Maß an individuellem Leiden und reduzierter soziale Wirksamkeit, da Organisationen, die auf Mangel und Stress aufgebaut sind, nicht imstande sind, gesunde Dienstleistungen an Andere anzubieten.
Doch es besteht Hoffnung: globale Initiativen wie das Wellbeing Project befürworten eine neue Kultur der Selbstfürsorge und inneren Arbeit im sozialen und Impact Sektor. Wohlbefinden (wellbeing) bezieht sich auf tiefe persönliche Entwicklungsarbeit, die zu ganzheitlicherer Wahrnehmung der Welt und Beziehungsfähigkeit führt. Praktiken, die Wohlbefinden unterstützen, können Meditation, mehr Zeit mit Familie, Selbstreflektion oder Therapie umfassen. Diese Praktiken führen zu einer besseren psychischen Gesundheit, mehr Zufriedenheit, Bedeutsamkeit und die Fähigkeit, besser mit Stress umzugehen. Eine laufende Reihe von Artikeln im Stanford Social Innovation Review erforscht die Verbindung zwischen innerem Wohlbefinden und sozialer Veränderung im Detail.
Ich bin dieser Agenda persönlich tief verpflichtet. Mit der Unterstützung einer diversen Auswahl an Förderern, entwickelt das betterplace lab zurzeit ein Programm für deutsche gemeinwohl-orientierte Akteure, das einen Fokus auf individuelle Kompetenzen des Wohlbefindens legt, wie Selbstkontakt und -reflektion, sowie Organisationsfähigkeiten zur besseren Kollaboration mit Partnern.
Ein neues Führungsparadigma erscheint am Horizont: die Erschaffung von gedeihenden Unternehmen, dessen ultimatives Ziel nicht Shareholder-Value ist, sondern eine gerechtere Gesellschaft und ein gesunder Planet. Dafür müssen wir Organisationen aufbauen, die den Menschen ins Zentrum stellen, und mehr Teammitglieder dazu befördern, ihr Potenzial auszuschöpfen. Psychologisch ausbalancierte und resiliente Individuen sind gut gerüstet um ihre Kreativität zu erschließen und sie in den Dienst des größeren Zwecks des Unternehmens zu stellen.
Als Führungskräfte können wir unsere Teams dazu inspirieren, diesen neuen Weg zu gehen, die neuen Werte vorbildlich verkörpern und unsere Mitarbeiter dabei unterstützen, die neuen notwendigen Kompetenzen zu erlernen.
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Ich bedanke mich bei Carolin Silbernagl für ihre Einsichten in die Probleme, vor denen Sozialunternehmer aufgrund der Corona Krise stehen.
Dieser Artikel erschien zuerst auf englisch auf TwentyThirty, dem Blog der BMW Foundation.
Foto: Meriç Dağlı | Unsplash