Wie lässt sich unsere Demokratie zukunftsgerichtet aufstellen? Seit einigen Jahren erforschen wir das innovative Potential digitaler Ansätze für die Demokratie – ob im Förder- und Qualifizierungsprogramm demokratie.io, dem internationalen Digital Democracy Lab oder bei Das NETTZ, der zivilgesellschaftlichen Vernetzungsstelle gegen Hate Speech. Dabei haben wir gelernt: So sehr wir an die Potentiale digitaler Lösungen glauben, so braucht es für ein zeitgemäßes Update der Demokratie mehr, als technische Lösungen.
Was macht Desinformation so gefährlich?
Gerade das Phänomen Desinformation führt uns die negativen Auswirkungen von Technologie vor Augen, wie aktuell auch im Fall der russischen Desinformation im Zuge des Ukraine-Krieges zu bemerken ist. Desinformation ist zwar nicht neu, doch wird sie im digitalen Raum immer bedrohlicher und allgegenwärtiger: Technologische Strukturen sind zumeist so gebaut, dass intransparente Algorithmen Inhalte personalisiert ausspielen und Meinungen sich somit gegenseitig in so genannten Echokammern verstärken. Technologische Innovationen wie Deep Fakes sorgen unter dem Einsatz von GAN-Technologie (Generative Adversarial Networks, künstliche Intelligenzen, die sich gegenseitig trainieren) dafür, dass man die Echtheit von Videos kaum mehr überprüfen kann; durch GPT-3 (Generative Pre-trained Transformer 3, ein autoregressives Sprachmodell) können Texte in hoher Qualität schon jetzt automatisiert erstellt werden. Zusätzlich zur Flut an Fake Accounts in sozialen Netzwerken werden wir künftig noch mit einer anderen Dimension von automatisierten Inhalten konfrontiert werden: Desinformation verstärkt gesellschaftliche Spaltung und bedroht in der Konsequenz den gesellschaftlichen Zusammenhalt und unsere demokratischen Strukturen.
Doch neben bewusst initiierten Falschnachrichten, die strategisch eingesetzt immensen Schaden anrichten können, gibt es auch eine Lesart, die tiefer nach der Konstitution von Wahrheit fragt. Denn einige Themen bewegen sich unschärfer zwischen Wahrheit und Fiktion und sind je nach ideologischer Brille dem einen oder anderen Ende des Spektrums zuzuordnen.
Unstrittig ist, dass Desinformation ein Problem darstellt, doch wirft es zugleich wichtige Fragen auf: Wieso fällt Desinformation überhaupt auf fruchtbaren Boden? Welche Information steckt in diesem Phänomen? Was müssen wir über gesellschaftliche Problemlagen lernen, um dieses konkrete Problem in seiner Tiefe zu erfassen und bearbeitbar zu machen? Wir glauben, dazu müssen große gesellschaftliche Entwicklungslinien mit in den Blick genommen werden. Sei es das seit Jahren schwindende Vertrauen in Institutionen, die Ideologie der Leistungsgesellschaft oder auch die Plattformisierung unserer Gesellschaft. Desinformation lässt sich weder isoliert betrachten, noch lassen sich durch sie entstandene Probleme isoliert lösen.
Ein komplexes Phänomen multiperspektivisch begreifen
Wie bei allen gesellschaftlichen Fragen werden es eben nicht technokratische oder technische Lösungen sein, die sie beantworten. Um Desinformation entgegenzuwirken, ist es notwendig, multiperspektivisch auf das Phänomen zu schauen. Deshalb haben wir im Rahmen des betterplace co:lab Programms ein Akteur*innen-Cluster zum Thema Desinformation initiiert, welches aus verschiedenen Perspektiven auf das Thema blickt. Inhaltlich setzte sich das Cluster damit auseinander, wie und wo Desinformation ins System gelangt, dort verbreitet und rezipiert wird, um herauszufinden, wie wirksam dagegen vorgegangen werden kann. Die diversen Perspektiven aus dem Fact-Checking, der Medienpädagogik oder auch der Regulierung brachten schon in unserer Gruppe diverse Sichtweisen zutage.
Im Rahmen des Projekts "Kompetenznetzwerk gegen Hass im Netz” haben wir – aufbauend auf der Arbeit von legacies.now – eine Art Karte des "Feldes Desinformation” weiterentwickelt, um systemische Faktoren ergänzt und dieses Wissen durch Stakeholder-Interviews aus verschiedenen Expertise-Gebieten angereichert. Entstanden ist eine interaktive Karte, die den Herstellungs- und Verbreitungsprozess von Desinformation in Form einer Wertschöpfungskette beschreibt. Denn für einige Akteur*innen entsteht durch Desinformation Wert: sie gewinnen an Einfluss, Macht, Status, Geld. Zudem setzen wir die Wertschöpfungskette in den Kontext gesellschaftlicher Entwicklungslinien. Diese Entwicklungslinien verdeutlichen wir anhand exemplarischer Makro-Trends (konkrete Ausprägungen großer historischer Entwicklungslinien) sowie Meso-Trends (Ausprägungen in direktem Zusammenhang zur Desinformation), die Ansatzpunkte für Maßnahmen bieten.
Desinformation und der Bezug zu Makro- und Meso-Trends, sowie die Ausdifferenzierung in verschiedene Phasen der Wertschöpfungskette, erzählen wir zudem anhand von drei Fällen: Hetze gegen Renate Künast, lukrative Geschäfte in Nordmazedonien und Einfluss bei den US-Wahlen. Entlang der jeweiligen Wertschöpfungskette sind zudem (beispielhaft) Akteur*innen vermerkt, die an der Erstellung und Verbreitung von Desinformation beteiligt sind, oder sie rezipieren. Durch das Anklicken verschiedener Maßnahmen kann man sich entlang der Kategorien “Forschen & entwickeln”, “Experimentieren & messen”, “Informieren & bilden”, “Aufdecken und verteidigen”, “Durchsetzen & klagen”, “Platzieren & antreiben” und “Demonstrieren & aktivieren” Initiativen anschauen, die bereits wirksam gegen Desinformation vorgehen.
Unser Wissen ist nicht im stillen Kämmerlein entstanden: Auf der Basis von Gesprächen mit fast 30 Expert*innen aus unterschiedlichen Disziplinen haben wir unsere Arbeit kritisch beleuchtet und angepasst. In der aus den Gesprächen entstandenen Publikation präsentieren wir zudem eine ganze Bandbreite von strategischen Ansätzen gegen Desinformation. Und wir resümieren, warum nur sektorübergreifende Zusammenarbeit uns weiterbringen kann und plädieren für eine verbesserte Informationsökologie, gestärkte Regulierung und koordiniertes Handeln.
Deine Ansprechpartner*in für das Thema: katja.jaeger@betterplace-lab.org