Über digitales Menschsein, vollendete Marktmacht und die Idee, dass alles auch ganz anders sein könnte
„Die Corona-Krise beweist auch den bisherigen Skeptikern, dass die Digitalisierung ein Geschenk für die Menschheit ist. Die nun gebotene soziale Distanz wäre ohne das Internet unerträglich.“, schreibt die Süddeutsche Zeitung. Eine Aussage, der es wohl wenig entgegenzusetzen gibt. Und doch lohnt ein genauerer Blick auf „das Internet“, um zu verstehen, warum Skeptiker*innen nicht immer rückwärtsgewandt sind und weshalb auch diese Medaille zwei Seiten hat.
Ob Arbeiten aus dem Home Office, der Plausch mit der Familie oder das Erledigen von Einkäufen, in Zeiten von Corona wird uns klarer denn je: Unser gesellschaftliches Leben hängt am seidenen Faden der datendurchströmenden Glasfaserleitungen. Doch es geht um weitaus mehr. Im digitalen Raum wurden Fundamente errichtet, die zu Mega-Cities herangewachsen sind. Aus ihrem Smog gibt es kein Entrinnen, will man noch irgendwie am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Die Rede ist von großen Onlinhändlern, Suchmaschinenanbietern und sozialen Plattformen, deren Geschäftstätigkeit sich inzwischen über alle erdenklichen Lebensbereiche erstreckt. Alphabet, der Mutterkonzern von Google, hatte 2018 gemeinsam mit Amazon, Facebook und Alibaba einen Jahresumsatz, der die Wirtschaftskraft des Landes Polen übersteigt.
Wie Konzerne unsere Weltbeziehungen formen
Dass die zunehmende Monopolstellung dieser Unternehmen in marktwirtschaftlicher Hinsicht zu einem gewaltigen Problem wird, ist nur ein Teil der Geschichte. Der andere ist, wie ihre Geschäftsprinzipien unser aller Leben bestimmen: Sie beeinflussen unser Wohlbefinden, formen unser soziales Leben und nehmen unsere Entscheidungsfreiheit vorweg. Sie sind zu Vermittlern unserer Weltbeziehung geworden.
Ein Merkmal der digitalen Vermittlung unserer Erfahrungen ist die Fragmentierung unserer Aufmerksamkeit. Wenn ich an meinem Laptop sitze, ist jede denkbare Aufgabe und jede verführerische Ablenkung nur einen Klick entfernt. Multitasking als Standardprogramm. Linda Stone, ehemals Führungskraft bei Apple und Microsoft, beschreibt diesen Zustand als "Continuous Partial Attention”. Der Neurologe Daniel Levitin zeigt sich in seinem Buch The Organized Mind dementsprechend beunruhigt: Uns könnte die Fähigkeit zur Konzentration und zum Lernen abhanden kommen.
Hinzu kommt ein weit verbreitetes Gefühl, dass die Zeit immer knapper und alles immer schneller wird. Mit den aktuellen Entwicklungen Schritt zu halten und stets up-to-date zu sein – sei es im Job oder anderswo – gerät bei der digitalen Flut an Informationen nicht selten zu einer kaum lösbaren Aufgabe. Dass hier gesundheitliche Folgen drohen, liegt auf der Hand. Nicht umsonst rät man uns in Zeiten der Coronakrise neben gründlichem Händewaschen auch zu Nachrichtenhygiene. Während wir unseren Organismus vor einem Virus schützen, schirmen wir unsere Psyche vor dem unerbittlichen Kampf um unsere Aufmerksamkeit ab, um ein bisschen Ruhe in der Aufregung zu finden.
Fragwürdige digitale Geschäftsmodelle
Hier liegt der Hund begraben. Die wirtschaftliche Kraft des Internets liegt zu einem großen Teil in seinem Wert für die Werbeindustrie – und diese wiederum lebt von der Aufmerksamkeit der Menschen. Digitale Geschäftsmodelle zielen in den meisten Fällen darauf ab, die Daten von Nutzer*innen zu sammeln und diese an die Werbeindustrie zu verkaufen. Je länger ein*e User*in mit einer App oder Website interagiert, desto mehr Informationen lassen sich über die Person in Erfahrung bringen. Kein Wunder also, dass so viele um Erfolg bemühte Start-ups, ebenso wie die etablierten Player im Markt, mit unterschiedlichen Mitteln darauf setzen, die Bildschirmzeit ihrer User*innen zu erhöhen.
Einmal auf der Plattform sollen sie möglichst lange dort bleiben und ihren digitalen Alltag von dort aus erleben und organisieren. Täglicher Nachrichtenkonsum, die Beziehungspflege mit Familie und Freunden oder regelmäßiges Shopping sind nur einige der zu nennenden Aktivitäten. Facebook will mit seiner eigenen digitalen Währung bald den nächsten Schritt in diese Richtung machen. Der chinesische Facebook-Klon WeChat zeigt bereits wie das geht: Mit circa 900 Millionen monatlichen User*innen und einem Marktanteil von über 40 Prozent im Online-Geschäft ist WeChat Pay einer der größten Payment-Provider weltweit.
Aber es sind nicht nur spannende Inhalte und praktische Angebote, die uns auf Webseiten halten. Das Gefühl, dass der Besuch mancher Webseiten oder das Öffnen bestimmter Apps zum ungewollten Zwang wird, ist das Ergebnis ausgeklügelter Produktentwicklung. Denn in der Welt des Software-Designs arbeiten viele Menschen daran, Produkte immer suchterzeugender zu machen.
Die Zukunft nach Corona wird jetzt entschieden
In Zeiten weltweiter Ausgangssperren merken wir auf eindrucksvolle Weise: Digitale Technologien sind aus unserem Leben nicht mehr wegzudenken. Sie sind unabdingbar für unser wirtschaftliches und soziales Gemeinwesen. Amazon hält einen Großteil der Güterversorgung aufrecht und Videokonferenz-Tool Zoom verbindet die Welt zu einem virtuellen Büro. Und gleichzeitig merken wir, dass diese Akteure oftmals mit zweifelhaften Methoden arbeiten – man denke an nur an die virulente Datenschutzdebatte zu Zoom. Welche Lehren können wir daraus für die Zukunft ziehen?
Zunächst gilt es sich klar und deutlich vor Augen zu führen, was dieser Tage eigentlich passiert: Das politische Handeln auf höchster Ebene ist nichts anderes als eine Abkehr von tradierten wirtschaftspolitischen Glaubenssätzen. Um der Krise Herr zu werden, hat der Bund die Schuldenbremse vorerst aufgehoben und es wird laut über die Verstaatlichung von Betrieben nachgedacht. Es sind solche Maßnahmen, vor allem aber auch die teils drastische Einschränkung des Wirtschaftslebens, die noch vor kurzem als völlig illusorisch abgetan worden wären. Und dennoch ist sie heute Realität. Das ist ein politischer Akt. In ihm liegt die Kraft nun eine Zukunft zu gestalten, die sich vom Alten verabschiedet und Neues wagt.
Dieses Momentum sollten wir auch nutzen, um die Zukunft unserer digitalen Welt zu gestalten.
Denn eines ist klar: Die fragwürdigen Praktiken der Digital-Industrie sowie auch ihre zahlreichen Skandale in jüngerer Vergangenheit sind nicht etwa Ausrutscher einzelner Unternehmen. Stattdessen sind sie logische Konsequenzen eines auf Finanzgewinn reduzierten kapitalistischen Wettbewerbs. Unsere Aufmerksamkeit und und unsere Daten sind der Treibstoff, der immerwährendes Wachstum generieren soll. Und nun ist abzusehen, dass es vor allem die Internetgiganten sein werden, denen der Sturm der Krise Rückenwind gibt. Sie werden am Ende mächtiger sein als je zuvor.
Gemeinwohlperspektive stärken
Deshalb braucht es jetzt Stimmen, welche die Gemeinwohlperspektive unserer digitalen Zukunft in den Mittelpunkt rücken: freier Zugang zum Internet, sichere Kommunikationswege, Angebote zu Freiem Wissen oder Open-Data- und Freie-Software-Anwendungen. Konkrete Maßnahmen dazu hat die digitale Zivilgesellschaft jüngst in einem offenen Brief zusammengestellt.
Dazu kommt, dass wir das Internet gerade als einen Ort der Verbundenheit und des sozialen Miteinanders wiederentdecken, wie wir es vielleicht aus seinen enthusiastischen Anfängen kennen. Statt einsam im Lockdown zu versauern, treffen sich Menschen in digitalen Bars, musizieren gemeinsam im Livestream oder machen online zusammen Yoga.
Wann also, wenn nicht jetzt, könnten wir freier darüber nachdenken, digitale und wirtschaftliche Ökosysteme zu entwerfen, deren Anreizstrukturen auf die Steigerung des Gemeinwohls zielen, anstatt auf ungebremstes Wachstum und finanzielle Profite? Wir könnten aus der Krise die Lehre ziehen, dass das Netz vor allem ein Ort ist, in dem wir zueinander kommen und uns organisieren können. Ein Ort, an dem wir Menschen und nicht bloß Wirtschaftssubjekte sind.
Der selbstbewusste politische Umgang mit der Krise beweist, dass wir als Gesellschaften noch handlungsfähig sind. Die wirtschaftspolitischen Maßnahmen und Entscheidungen der letzten Jahrzehnte wurden gerne als “alternativlos” bezeichnet. Nun zeigt sich, wenn auch unter drastischen Bedingungen, es gibt immer eine Alternative – auch wenn natürlich diese mit Nachteilen und Einschränkungen einhergehen. Die Tür ist also mehr als einen Spalt geöffnet, um auf mehr als eine bloße Wiederherstellung des Status quo ante zu setzen.
Weiterführende Literatur
Digital wellbeing in the twenty-first century Ben Mason untersucht für das betterplace lab in einer Kurzstudie, wie digitale Technologien unser Wohlbefinden beeinflussen. Neben umfassender Symptombeschreibung auf individueller Ebene blickt er auch auf die systemischen Ursachen, die zu diesen teils pathologischen Effekten führen. Wie wir da wieder rauskommen, bleibt zum Glück nicht unerwähnt. Studie (Dez 2018). Alibaba überall Julia Friedrichs und Andreas Spinrath schreiben über den schwindelerregenden Aufstieg des chinesischen Alibaba-Konzerns. Als “Metaplattform” ist sie eine Art Google, Facebook und Amazon in einem. In ZEIT Magazin. Gemeinwohl-Ökonomie |