Growing Spaces: Eine Agenda für mehr Gestaltungs- und Handlungsspielraum

Wir leben in einer Welt der schrumpfenden Räume

Growing Spaces beschreibt eine Intention und Agenda , die sich dafür einsetzt, dass die Gestaltungs- und Handlungsspielräume für Einzelpersonen, Gruppen und die Welt als Ganzes größer werden. Der Begriff wurde vom betterplace lab als Antwort auf die Krisenspirale geprägt, in der wir uns aktuell wiederfinden. In diesem Blogpost werde ich ihn vorstellen und eine erste Landkarte entwerfen: Was verstehen wir unter Growing Spaces und welche verschiedenen Arten von Wachstum (Growth) streben wir an?

Der Begriff setzt sich ab von „schrumpfenden Räumen“ , einer weltweiten Tendenz, die sich in der zunehmenden individuellen Vereinzelung und Überforderung zeigt, in der gesellschaftlichen Fragmentierung, der diskursiven Polarisierung, demokratiefeindlichen Bestrebungen und autoritären Regimen sowie der existentielle Bedrohung des gesamten planetarischen Wohlergehens durch eine ungezügelte Ausbeutung von Ressourcen.

Shrinking Spaces konfrontieren uns allerorts mit alten und neuen Grenzen. Als Individuen stoßen wir sowohl in der Außenwelt als auch in unserem subjektiven Erleben an Grenzen. Viele spüren einen inneren Druck, der teilweise ins Unerträgliche, in existenzielle Not wächst. Menschen sind erschöpft, kurz vor oder mitten im Burnout. Wir sind getriggert – halten die Spannung, die entsteht, wenn wir Menschen mit anderen Weltanschauungen treffen, immer schwerer aus. Wir wehren uns, indem wir uns mit einer Reihe beliebter Mechanismen schützen, die jedoch ihrerseits zur weiteren Polarisierung und Fragmentierung beitragen: Wir überheben uns, wir bestrafen, wir reduzieren unsere Gegenüber auf eine Facette ihrer Identität und ziehen uns tendenziell immer weiter in unsere Blase zurück. Angst vor Veränderung und Kontrollverlust lähmt und lässt uns auf frühere, sicher sichere Entwicklungsstufen zurückgehen.

Auch Organisationen schrumpfen. Viele, die in den letzten Jahren enthusiastisch neue, flache Führungsstrukturen eingeführt und auf Selbstführung, Kollaboration und Co-Kreation gesetzt haben, drehen das Ruder wieder um. Beordern Mitarbeitende aus dem Home Office zurück in die Büros, verfestigen Hierarchien und Kontrollinstanzen. Auf der Seite der Mitarbeitenden führt dies zu Unzufriedenheit, Konflikten oder Rückzug.

Diese Muster spiegeln sich im größeren gesellschaftlichen Raum: Wir sind festgefahren und schaffen es nicht, relevante, dringend notwendige Veränderungen zu besprechbar zu machen und zu schließen. Neue Positionen und Ansätze führen bei großen Bevölkerungsgruppen zur Gegenwehr und Verteidigung der eigenen Pfründe. Angesichts überwältigender Komplexität greifen immer mehr Machthaber, aber auch Wählerinnen und Wähler auf vereinfachende Positionen und politische Strukturen eines libertären Autoritarismus zurück. Gerade für zivilgesellschaftliche Akteure, die vielfältig und kleinteilig sind und damit schwer kontrollierbar sind, werden die öffentlichen Räume und Ressourcen immer eingeschränkter. Dasselbe gilt für die Meinungsfreiheit, die im Zusammenhang mit digitalen Medien ein gesellschaftlich breit ausgehandeltes Update bekommen müsste. Ohne dieses versinken wir in polarisierten Silos und können uns immer weniger auf eine Realität einigen.

Die Zivilgesellschaft spielt in diesen drei Bereichen – Individuum, Organisation und Gesellschaft – eine besondere Rolle. Sie verkörpert mit ihrer Vielfalt, ihrem breiten Beteiligungsangebot und ihrem Gestaltungswillen die Vision einer wachsenden Welt. Sie ist ein Erfahrungs-, Experimentier- und Möglichkeitsraum mit vielfältigen Auswirkungen auf die Gesamtgesellschaft. Damit stellt sie auch eine Bedrohung für regressive Mächte dar und ist dementsprechend besonders von Shrinking Spaces betroffen. Dies sehen wir anhand der vielen Maßnahmen weltweit, die insbesondere innerhalb der letzten zwei Jahrzehnte versuchen, ihre Aktivitäten teilweise massiv einzuschränken; durch drohende Gesetze, Kürzungen von Ressourcen, psychischen und physischen Einschüchterungsversuchen bis hin zu Gefangenschaft, Folter und Mord.



Entwicklung ist Entfaltung und braucht Raum

Wenn wir für die Welt, so wie sie heute ist – vernetzter und komplexer als je zuvor – adäquate Antworten finden wollen, dürfen wir nicht schrumpfen, sondern wachsen und uns entwickeln. In meinem Verständnis ist die Entwicklung kein mechanischer Prozess, für den wir einer bestehenden Struktur ein paar neue Elemente hinzufügen. Sie ist ein organischer Entfaltungsprozess . Ich gehe davon aus, dass Neues aus Bestehendem hervorgeht, also emergiert. Das heißt, neue Entwicklungen sind als Potenzial in Individuen, Organisationen und großen Organismen wie Gesellschaften vorhanden und werden durch uns als handelnde Akteure in Form von konkreten Strukturen und Prozessen und ideellen Haltungen und Werten manifestiert. Diesen Prozess kennen wir aus der Biologie, wo eine Eichel alle Informationen des späteren Baumes in sich birgt, oder ein Embryo seine Organe nicht einzeln entwickelt, sondern diese sich aus dem Ganzen entfalten.

Finden Sie Entwicklungsprozesse in einer Umgebung statt, die materiell oder bewusstseinsmäßig zu klein ist, verformen sie sich und bilden Pathologien.

Gesunde Wandlungs-, Wachstums- und Entwicklungsprozesse brauchen Raum , im wörtlichen und metaphorischen, inneren und äußeren Sinn. Es kann sich dabei um konkrete, physische Räume handeln, ebenso wie um zeitliche Rhythmen. Es kann um Begegnungsräume zwischen verschiedenen Menschen gehen, die auf eine spezielle Art miteinander interagieren. Es geht um Experimentierräume, in denen Menschen neue Ansätze, mögliche Zukünfte austesten können. In seinem grundlegendsten Sinn geht es jedoch um Bewusstseinsräume, darum, wie viel und wie viel unterschiedliche Information – dh Impulse, die wir als Menschen – in der Wahrnehmung von Menschen auftauchen können.

Für die unterschiedlichen Qualitäten und Dimensionen dieser Bewusstseinsräume haben wir bisher nur sehr unzureichende Beschreibungen. Jeder von uns weiß es zwar, wenn es „innerlich eng“ wird, weil wir unter Stress geraten oder Angst haben. Dann werden wir von einer Erfahrung ganz ausgefüllt. In größeren Bewusstseinsräumen, die entstehen, wenn wir entspannter sind oder wenn wir gelernt haben, subtile Bewegungen in uns und der Außenwelt wahrzunehmen, können viel mehr unterschiedliche Informationen beheimatet werden. Dann können wir Widersprüche, Spannungen und Ambiguitäten besser halten, ohne dabei die innere Orientierung zu verlieren. Dann erweitert sich unsere Welt von „entweder/oder“ zu „sowohl als auch“ und wir können uns von gleichzeitig auftauchenden Wahrnehmungen, die für Komplexität typisch sind, informieren lassen.

Entfaltung geht einher mit mehr Vielfalt , mehr Bezug zur Realität, mehr Perspektiven, mehr Lösungsoptionen. Weisheitslehrer sowie Komplexitätsforscherinnen sprechen davon, dass im richtigen Raum eine komplexe, überwältigende Welt wieder eine einfache, handhabbare Welt wird: „Einfachheit ist Komplexität in einem breiteren Becher.“ Growing Spaces basiert auf diesen vielfältigen Arten von Wachstum und Transformation. Damit bestärkt es einen Wachstumsbegriff, der sich explizit von der Fiktion eines unendlichen Wirtschaftswachstums abgrenzt. Dieser Wachstumsbegriff setzt auf immaterielles und natürliches Wachstum, welches die Grenzen planetarischer Ressourcen respektiert. Ein Wachstum, das uns dabei innerlich ermöglicht, mit mehr von dem umzugehen, was ist, indem wir es in uns abbilden können.



Wie schaffen wir Growing Spaces, wachsende Räume?

Wachstum, so wie wir es heute am meisten verstehen, bedeutet „mehr vom Gleichen“. Mehr Konsum, mehr Energie, mehr Macht. Aber Wachstum muss nicht quantitativ sein. Wir können sowohl quantitativ als auch qualitativ denken. Wir können innere (subjektive) und äußere (objektive) Aspekte betrachten. Wir können uns auf eine multidimensionale Landkarte des Seins und Werdens, des Erfahrens und Gestaltens beziehen. Einige dieser Dimensionen möchten wir hier skizzieren und damit die Basis für eine umfangreiche Erforschung anbieten.

Im Folgenden stelle ich zwölf verschiedene Dimensionen von Wachstum vor. Diese sind nicht linear zu verstehen und bauen nicht unweigerlich aufeinander auf. Manche dieser Perspektiven stehen für sich, andere überlappen sich. Einige sind wahrscheinlich einfach zu verstehen, da sie innerhalb unseres traditionellen Weltbilds angesiedelt sind. Andere erfordern einen Sprung ins Unbekannte, da sie psychologische und transrationale Dimensionen mit einbeziehen, die beispielsweise in der Traumaforschung und den Weisheitstraditionen verwendet werden.

Das Vier-Quadranten-Modell

Für die Kategorisierung von Growing Spaces eignet sich das Vier-Quadranten-Modell, ursprünglich entwickelt vom amerikanischen Philosophen und transpersonalen Psychologen Ken Wilber. Dies bildet die Realität in vier verschiedenen Dimensionen ab: individuelle und kollektive, sowie innere und äußere. In jedem dieser Bereiche können wir wachsen und das Konzept der Growing Spaces verfolgen.


Wachstum im kollektiven Außen

1. Kollaboration und Co-Kreation fördern
Growing Spaces kann darin bestehen, die meist kleinen zivilgesellschaftlichen Organisationen, die in einem Themenfeld arbeiten und/oder eine ähnliche Zielsetzung haben, miteinander zu verbinden und wirksame Kollaborationen zwischen ihnen zu unterstützen. Dabei geht es nicht um eine „Skalierung“ im herkömmlichen Sinn, da dies oft bedeutet, dass einzelne Akteure ihre Identitäten zugunsten eines Standardmodells aufgeben. In einem gelungenen Kollaborationsprozess lassen sich die einzelnen Teilnehmenden so aufeinander ein, dass sie mehr und bessere Beziehungen untereinander eingehen und sich mit ihren jeweiligen Perspektiven und Kapazitäten zu einem größeren Ganzen verbinden. Dadurch wachsen sowohl ihre Einzigartigkeit als auch ihre Gemeinsamkeit.

Zivilgesellschaftliche Praxisbeispiele:
betterplace lab Co:lab

Allianz für die resiliente Informationsgesellschaft


Our Podcast

The first episode of the series "Wir kriegen die Krise." (only in German)