Das betterplace lab in Zeiten von Corona

Foto: Gabe Rebra | Unsplash

Wie digitale Kompetenzen und Inner Work uns ermächtigen, die Krise zu meistern

1 Akt: Schock und Paralyse

In der ersten Woche der Corona-Epidemie konfrontierte unsere Finanzüberblickerin Carolin das Team mit einer harten Rechnung: „Uns drohen bis zu 20% Umsatzeinbußen. Vorerst fallen alle geplanten Veranstaltungen aus und zahlreiche aktuelle Projekte in der Pipeline sind unter den aktuellen Bedingungen nicht realisierbar.“ Für ein Sozialunternehmen wie betterplace lab, welches einen ausgeglichenen Jahresabschluss anstrebt und fast keine Reserven hat, ist so eine Situation existenzbedrohend.

Fast jede/r im Team war betroffen. Wie Hanna und Nadine, die im Rahmen von DAS NETTZ eine dichte Reihe von Netzwerk-Treffen geplant hatten, auf denen sich zivilgesellschaftliche Organisationen, die gegen Hate Speech angehen und für eine positive Debattenkultur im Internet kämpfen, austauschen sollten. Katja steckte mitten in der Planung eines großen Szenario-Workshops für digitale Demokratie-fördernde Initiativen. Die vielen tollen Projekte sollten gestärkt werden, indem sie ihre Wirkung besser messen lernen und (z.B. durch Kooperationen mit innovationsfreudigen Kommunen) skalieren können. Isabel und Nora mussten die Koffer wieder auspacken, da ihre Workshops in Uganda im Rahmen des Digital Human Rights Lab den Reiserestriktionen zum Opfer fielen. Franziska hatte es zwar gerade noch geschafft, ihre Projektpartner in Kiew vor Ort zu treffen, doch die geplanten Präsenzmodule der TechSisters, eines Mentorinnen-Programms für ukrainische zivilgesellschaftlich engagierte Frauen, wurden sofort gestrichen.

Die ersten Reaktionen im Team schwankten zwischen Ungläubigkeit, Unsicherheit und Schockstarre: Ist das wirklich real? Gehen wir noch ins Büro? Was wird alles weg brechen? Spätestens jedoch als von Kita- und Schulsperrungen die Rede war, fiel nahezu einstimmig die Entscheidung fürs Home Office.

Zwischenspiel: Von der Theorie in die Praxis

Der Wechsel von unserem Büro im bUm zum Home Office stellte das betterplace lab vor eine höchst spannende Frage: wie würde das Team, bestehend aus einem guten Dutzend Mitarbeiter*innen, so radikal dezentalisiert seine Arbeit leisten können? An den meisten Projekten arbeiteten mehrere Team-Mitglieder und alle herkömmlichen Management-Funktionen waren ebenfalls in (an Holokratie angelehnten) Kreisen organisiert. Kollaboration, untereinander ebenso wie mit Partner*innen und Kund*innen, steht im Mittelpunkt unserer Arbeit.

Theoretisch waren wir gut vorbereitet: Wir hatten in den letzten sechs Jahren unsere Organisationskultur vollständig umgekrempelt und arbeiteten selbstorganisiert in einer flexiblen, kompetenz-basierten Hierarchie, also ohne feste Strukturen, Chef*innen und Rollenbeschreibungen. Aber nicht nur das: wir hatten gelernt, dass flüssige Strukturen nur dann funktionieren, wenn wir als Menschen neue Kompetenzen erlernen. Und so hatten wir Zeit und Geld in den Aufbau von konkreten Fähigkeiten gesteckt; in individuelle Fähigkeiten wie Selbstkontakt und Selbstreflexion, in Beziehungskompetenzen wie Empathie und transparente Kommunikation und in Feldkompetenzen wie Prozessbewusstsein (Metareflexion) und Intuition. Den Weg hatten wir in New Work needs Inner Work ausführlich beschrieben.

2. Akt: Innere Kompetenzen stabilisieren in der Krise

Als Think und Do Tank, der erforscht und fördert was das Digitale sozial macht, hat das betterplace lab in den letzten Jahren eine gute digitale Infrastruktur aufgebaut. In Matt Mullenwegs 5 Ebenen verteilter Arbeit würde ich uns zwischen Ebene 3 und 4 einstufen. Mitarbeiter*innen sind digital kompetent und sind es gewohnt eine ganze Reihe digitaler Tools zu verwenden. Wir dokumentieren unsere Arbeit gut und jeder kann auf alle Dokumente in der Cloud zugreifen. Damit unterscheiden wir uns deutlich von vielen gemeinnützigen Organisationen, die ihre wichtigsten Informationen in Papierordnern abgeheftet haben und jetzt gelähmt sind, weil sie nicht an diese Ordner rankommen. Die digitale Affinität zeigte sich in den letzten Wochen vor allem aber auch darin, dass wir innerhalb von Tagen eine ganze Reihe neuer Tools, z.B. Mural, austesteten und in unsere Arbeit integrierten

Mindestens genauso wichtig wie die digitale Tool-Ebene war jedoch die „psychische Infrastruktur“ der Team-Mitglieder, d.h. wie sie es verstanden mit den starken Veränderungen auf verschiedensten Ebenen umzugehen.

Inspiriert von Frederic Laloux’s Konzept der „Wholeness“ hatten wir in den letzten Jahren ein geteiltes Verständnis und eine gemeinsame Sprache dafür entwickelt, was es bedeutet als „ganzer Mensch“ im Team zu erscheinen. So war es von Anfang an klar, dass wir dem Coronavirus einen Platz in Team anbieten würden. In Meetings sprechen wir über unsere Schwierigkeiten, z.B. mit kleinen Kindern im Raum arbeiten zu müssen, teilen unangenehme Gefühle wie Paralyse oder Angst, aber auch Bewältigungsstrategien.

„Die ersten Tage im Home Office war ich total blockiert,“ erinnert sich Hanna, „aber ich hab im betterplace lab gelernt mich emotional viel besser zu reflektieren und konnte so schnell herausfinden, wie ich mich zuhause einrichten muss, damit ich gut arbeiten kann.“ Nadine geht es ebenso: „Mir hat mein Selbstkontakt sehr geholfen. Zu verstehen: was geschieht gerade mit mir? Wieso fühle ich mich jetzt unter Druck? Und was kann ich machen, damit er entweicht?“

In den vergangenen Jahren hatten wir immer wieder im Kleinen einen Mechanismus gelernt: In Zeiten von Stress und Unsicherheit, fallen wir gerne auf uns bekannte und bewährte, jedoch nicht immer passende Strukturen zurück, z.B. indem jeder sich in sich selbst zurückzieht und das Team fragmentiert. Das Team hatte damals Halt in mir als Ex-Chefin gesucht, oder sich an unser Außenministerin Carolin orientiert.

Derart trainiert, war sich das Team bewusst, dass es einer solchen Vereinzelung vorbeugen musste und achtete besonders auf die Synchronisierung untereinander. Hatten alle die Informationen, die sie brauchten? Wer brauchte im Team mehr persönlichen Zuspruch als sonst? Fühlten sich alle eingebunden?

„Wir kommunizieren in dieser Situation achtsamer und wertschätzender“, sagt Katja „und entwickeln die notwendigen Formate, z. B. eine digitale Kaffeepause oder das morgendliche Standup auf Zoom“. Franziska: „Wir tauschen uns sehr ehrlich darüber aus, was gerade gut funktioniert und was nicht. Alle haben es gelernt, ihre Bedürfnisse offen zu äußern. Das ist manchmal zwar ein bisschen anstrengend, wenn man auf die neue Laufroutine des Kolleg*innen Rücksicht nehmen muss, aber wir finden immer einen Weg.“

„Das Team ist gerade stark aufeinander bezogen, ohne „gluckig“ zu sein. Jede/r hat ein gutes Gespür dafür, was andere gerade brauchen und ist zudem in der Lage, sich gegenseitig das Notwendige zu geben,“ findet auch Carolin.

Während es in hierarchischen Organisationen Chefaufgabe ist, den Blick für die Unternehmung als Ganzes zu halten, Teams Sicherheit zu geben und sie zu neuen Projekten inspirieren, gelingt dies im betterplace lab im Team als solchem. Dabei hilft ihnen ihr immer wieder trainiertes Prozessbewusstsein: Mitarbeiter*innen können mit klaren Worten beschreiben, was in ihnen und auf der Teamebene, ebenso wie in den Projekten gerade stattfindet und was es braucht, damit alle im Fluss bleiben.

Jedes Team-Mitglied, mit dem ich für diesen Artikel sprach, betont das Vertrauen in die Kollegen. „Niemand hat hier ein Kontrollbedürfnis oder denkt, dass jemand faul rumsitzt. Jeder gibt gerade das Beste, was in seinen/ihren Lebensverhältnissen möglich ist.“

Auf diese Weise gelingt sogar das Onboarding neuer Mitarbeiterinnen. Die neue Werkstudentin Katharina hat noch nie ein Team-Mitglied physisch gesehen, selbst ihr Bewerbungsgespräch lief über Zoom. Doch nach einer Woche digitaler Zusammenarbeit, ist sie erstaunt, wie gut diese klappt: „Bei vielen Unternehmen, die ich kenne, ist der Wunsch nach Agilität vorhanden. Aber ich finde es total erstaunlich wie eigenverantwortlich und selbstverständlich das im lab umgesetzt wird.“

Zwischenspiel: Was ist schwierig?

In meinen Gesprächen wird klar, dass die jeweiligen Lebensumstände eine große Rolle dabei spielen, wie wohl und produktiv sich Team-Mitglieder fühlen. Wenig verwunderlich tun sich Mitarbeiter*innen mit kleinen Kindern, die gemeinsam mit Partner/in auf begrenztem Raum leben schwerer als solche mit Garten und einer/m Partner*in in Elternzeit. Nicht ohne Grund hat Isa bei Zoom-Meetings als Hintergrund einen virtuellen Südseestrand ausgewählt, denn ihre Abstellkammer ist der beste Ort zum ruhigen Arbeiten.

Zudem kämpfen alle damit, dass die vielen langen Zoom Meetings erschöpfen. Manche fragen sich, ob die regelmäßigen Feedback-Sessions digital genauso gut funktionieren wie beim gemeinsamen Mittagessen beim Inder. Andere sind sich unsicher, ob sie auf dem Bildschirm die emotionalen Reaktionen der Kolleg*innen verpassen. „Digital sehe ich nicht die hochgezogene Augenbraue des Kollegen. Kriege ich mit, wenn sich jemand einsam oder von seiner Familiensituation überfordert fühlt?“ fragt sich Franziska.

Vor allem aber ist ungewiss, wie lange das Team noch so produktiv auf Hochtouren wird arbeiten können. Redakteurin Barbara: „ Gönnen wir uns inmitten der krassen Informationsflut genügend Pausen und achten ausreichend auf uns?“

Auch manche Projekte müssen im Home Office ihre Strategie adaptieren (oder neu entwickeln), um nun große physische Distanzen remote zu überbrücken. Als ich mit Isabel spreche, kommt sie gerade aus einem 3-stündigen Jitsi-Workshop mit einigen Projektpartner*innen aus Uganda. „Eigentlich sollte es ein persönlicher Kennlern-Kickoff mit unseren Communities of Practice sein. Es hat ganz gut geklappt, aber viele Menschenrechts-Organisationen, gerade aus dem ländlichen Raum, konnten nicht teilnehmen, weil es nur in Kampala halbwegs zuverlässiges Internet, bzw. überhaupt Strom gibt. Und ich vermisse die herzlichen menschlichen Beziehungen die sonst in diesen Workshops entstehen und die eine wichtige Basis für unsere Arbeit sind. Wegen der schlechten Verbindung mussten wir heute sogar die Kameras ausstellen.“

3. Akt: Kreativität auf der Projektebene

Doch grundsätzlich ist die Teamstimmung positiv. Das wirkt sich auch auf die Projektebene aus. In den letzten Wochen haben wir viele schöne Erfahrungen dabei gemacht, eigene Veranstaltungen digital durchzuführen, bzw. unerfahreneren Partnern dabei zu helfen. So transportierten Stephan, Katja und ich ein als Präsenzveranstaltung geplantes Mentorinnentreffen kurzfristig ins Internet. Wir adaptierten den Wochenend-Workshop derart – kurze Impulse, Diskussionen in Breakout-Rooms, Social Kitchens, aber auch Körperübungen und geleitete Meditationen –, dass die Teilnehmenden durchweg begeistert waren. Viele nannten sogar zahlreiche Vorteile gegenüber dem Offline-Treffen: der Austausch zwischen Mentees und Mentorinnen hätte noch nie so auf Augenhöhe stattgefunden und die willkürlich zusammengestellten Kleingruppen waren viel diverser als sonst. Auch konnten digital mehr Menschen insgesamt teilnehmen und die Teilnehmer*innenzahl war während der zwei Tage konstant zwischen 54-60.

Das Team entwickelte aber auch blitzschnell neue Formate. Beispielsweise eine gut besuchte abendliche Veranstaltung mit Kübra Gümusay, die aus ihrem Buch Sprache und Sein vorlas. Um den Bedarf vieler zivilgesellschaftlicher Organisationen nach wirkungsvollen digitalen Methoden der Zusammenarbeit zu bedienen, entwickelte ein kleines betterplace lab Team innerhalb von wenigen Tagen Jetzt digital handeln. Unterstützt von der ZEIT-Stiftung präsentieren wir jedoch nicht nur Tools, Methoden und Haltungshinweise, sondern geben auch einzelnen NGOs jeden Donnerstag und Freitag eine auf ihre individuellen Bedürfnisse abgestimmte kostenlose Beratung.

Neben der konkreten Projektarbeit hat das betterplace lab Team in der dritten Corona-Woche vermehrt damit begonnen, den Blick über die aktuelle Krisenphase hinaus zu erweitern und sich zu fragen, was unsere verschiedenen Stakeholder in den nächsten Phasen brauchen (könnten). Im NETTZ beobachten wir wie sich die online Debattenkultur entwickelt und welche Chancen und Risiken in der Krise stecken. Vor welchen Herausforderungen stehen zivilgesellschaftlichen Organisationen, ehrenamtlich Arbeitende, aber auch Geldgeber?

Wir fragen uns aber auch: was erleben wir gerade Positives, das es wert ist, Post-Corona zu erhalten? So erwähnten manche meiner Kolleginnen, sie hätten momentan mehr Raum zum Nachdenken und wünschten sich auch zukünftig, sich weniger mit Veranstaltungen und Terminen „zuzuballern“.

In dieser Zeit greifen wir auch auf unsere Erfahrungen und Studien aus vorherigen Krisen zurück, insbesondere unsere Arbeiten zur digitalen Flüchtlingshilfe. Wie 2016 sehen wir auch jetzt eine große Fülle digitaler Innovation und Aktivitäten: von den vielen Solidaritäts-Spendenaktionen auf Plattformen wie betterplace.me oder Startnext, bis zum Hackathon der Bundesregierung oder des City Lab Berlin. Lasst uns die gleichen Fehler wie damals, u.a. mangelnde User-Zentrierung und keine Schnittstellenarbeit zu öffentlichen Partnern, nicht nochmal wiederholen!

Epilog – Digitalen Kompetenzen und Inner Work gehört die Zukunft

Nachdem wir nach der ersten Bierdeckelrechnung bei einem hohen fünfstelligen Betrag im Minus gelandet waren, hatte das betterplace lab Team es in der zweiten Woche geschafft, diesen zu halbieren. Nach vier Wochen macht die Differenz zur Jahresplanung gerade mal 6.000€ aus.

Aber wichtiger noch als diese Zahlen ist, wie die Mitglieder des betterplace lab diesen Stresstest als Team bestanden haben.

Momentan zirkulieren viele Szenarien, wie die Welt nach COVID19 aussehen könnte. Für meinen Geschmack projizieren dabei viel zu viele ihre eigenen Wünsche und Interessen auf die Zukunft.

Doch zwei Dinge wage ich an dieser Stelle zu behaupten:

Erstens: Schon jetzt ist klar, dass Corona zu einem enormen positiven Digitalisierungsschub im sozialen Sektor führen wird. Umso wichtiger wird natürlich dann die Debatte um unabhängige, sichere digitale Infrastrukturen und der Aufbau eines gemeinwohlorientierten digitalen Ökosystems.

Zweitens: Es sind genau die in unserem New Work Prozess erworbenen Kompetenzen, die uns resilient und krisensicher gemacht haben. In dem Moment, wo sich äußere Strukturen auflösen – sei es durch Digitalisierung oder eine Pandemie – müssen wir innere Strukturen aufbauen, die uns Stabilität und Orientierung geben. Diese inneren Kompetenzen helfen uns jetzt die Krise zu meistern und die dahinter liegenden Werte und Prinzipien – Potentialentfaltung, Ganzheit, Empathie, Multiperspektivität, Emergenz etc. – können dazu beitragen, dass die Post-Corona-Welt menschlicher und nachhaltiger wird.

Our Podcast

The first episode of the series "Wir kriegen die Krise." (only in German)