“Wir machen eine kurze Pause und dann komme ich wieder mit einer Überraschung. Einatmen 1 --- 2 --- 3, Luftanhalten 1 --- 2 --- 3 --- 4, Ausatmen 1 --- 2 --- 3 --- 4 --- 5.” 30 Leute sitzen im digitalen Raum zusammen und atmen mit geschlossenen Augen kurz ein, halten die Luft an und lassen sie dann langsam wieder raus.
Ich denke an Georg Floyd. Ich frage mich, ob wir hier in dieser Konstellation zusammen wären, wenn er im letzten Jahr nicht getötet worden wäre. Nachdem ihm keine Luft mehr zum Atmen gelassen wurde, hat sich weltweit etwas in Gang gesetzt. Ich kann mir gut vorstellen, dass das bei einigen von den Workshopteilnehmer*innen bewirkt hat, dass sie ernsthaft aus der Komfortzone heraustreten wollen und nach Möglichkeiten suchen aktiv gegen Rassismus vorzugehen. Stress Coach, Empowerment- und Fitness-Trainerin Mariela Georg hält es aus, trotz und wegen eigener Diskriminierungserfahrungen immer wieder mit Menschen zusammenzukommen, die solche Erfahrung größtenteils nicht teilen, aber gern Verbündete im Kampf gegen Diskriminierung sein möchten. Am 9. September 2021 war sie zu Gast im co:lab X mit dem Workshop “Critical Wellness - Empowerment gegen Diskriminierung”
Mariela Georg fehlt ein konsequentes Vorgehen gegen Diskriminierungserfahrungen, besonders auch innerhalb unseres Bildungssystems. Und weil man die Welt nicht von heute auf morgen umkrempeln kann, müssen Kinder lernen, Stress abzubauen, der durch solche Erfahrungen entsteht. Es ist z. B. schwer sich auf Leistungen zu konzentrieren, wenn man die ganze Zeit rassistischen Verletzungen widerstehen muss. Das hat weitreichende Konsequenzen für den Lebensweg der jungen Menschen.
Unterdrückungserfahrungen werden als Schmerz erlebt und als Traumata in Gehirn und Körper abgespeichert. Ebenso die ständige Konfrontation damit, dass Menschen erfahren aufgrund rassistischer Zuschreibung wie selbstverständlich Privilegien haben. Durch Wiederholungen und permanent vorhandene Trigger wird der Stresszustand kontinuierlich. Das hat körperliche Folgen: die Ausschüttung von Stresshormonen führt zu Herz-Kreislaufproblemen und zu schnellerem Altern. Mariela Georg erzählt uns, dass es für sie jedes Mal eine schmerzvolle Erfahrung ist darüber zu sprechen, dass Diskriminierung tötet, dass Unterdrückungserfahrungen die Gene verändern und so Verletzungen von einer Generation zur anderen übertragen werden – ein Social Trauma entsteht. Ihr Fazit: „Wir brauchen ein ganzheitliches Empowerment.“ Ihr Ansatz nennt sich Critical Wellness.
Was ist mit Critical Wellness gemeint?
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Folie aus dem Vortrag von Mariela Georg
Um an bestehenden Machtstrukturen und Ungerechtigkeiten etwas zu ändern, ist es notwendig ein kritisches Bewusstsein zu entwickeln, strukturelle Diskriminierung sowie Privilegien zu erkennen. Critical Wellness beschreibt Mariela Georg als Prozess, der in zwei Richtungen geht. Menschen, die Unterdrückungserfahrungen machen, setzen sich damit auseinander, verinnerlichen, dass ihnen ihr eigenes Wohlergehen zusteht, finden Wege, Wunden zu heilen und auf verschiedenen Ebenen Wellness zu erlangen. Aber es ist nicht allein ein individueller Prozess. Ebenso wichtig und heilsam ist eine Gesellschaft, die sich kritisch mit Diskriminierung auseinandersetzt.
Beim Check-in am Anfang des Workshops in Kleingruppen stellen wir uns gegenseitig die Frage: „Fällt es dir leicht/fühlst du dich wohl dabei, wenn du anderen Menschen mitteilst, was du wirklich brauchst?“ Diese Frage aus dem Buch „Acts of Faith“ von Iyanla Vanzant ist essentiell für ein ganzheitliches Empowerment. Wichtig ist, sich selbst erstmal besser zu verstehen und eigene Bedürfnisse formulieren zu können, unabhängig davon, wie es bei anderen ankommt. Das gilt besonders für Menschen mit Unterdrückungs-/Diskriminierungserfahrung, die oft nicht gesehen werden.
Wenn Wellness ein Privileg ist, dann ist Wellness politisch. Wenn marginalisierte Menschen sich um das eigene Wohlergehen kümmern, dann ist das politischer Widerstand.
Alles, was ich brauche, trage ich schon in mir
Widerstehen können, resilient sein – das geht allerdings automatisch einher mit dem Social Trauma. Eine marginalisierte Gruppe entwickelt individuelle und gemeinschaftliche Überlebensstrategien. Darüber hinaus tragen Menschen ein indigenes kollektives Wissen in sich – dazu gehören auch Wellness Praktiken, die äußerst effektiv sind. Es ist zu beobachten, dass dieses Wissen vermehrt kolonisiert wird, d. h. es wird aus dem Kontext gerissen und von kapitalistischen, patriarchalischen Strukturen quasi einverleibt, anstatt es in seiner Komplexität zuzulassen und wertzuschätzen. Es braucht eine „Dekolonisierung von Geist und Körper mit dem Ziel, Selbstverwirklichung zu erreichen.“ Wenn man an den bestehenden Machtstrukturen etwas ändern will, kann man sich ganz schön ohnmächtig fühlen. Was man aber verändern kann, ist das eigene Wellbeing, sei es durch Affirmation, traditionelle Praktiken oder auch durch Sport, der wissenschaftlich erwiesen gegen die durch Stress verursachten Leiden wirkt. Heilung kann stattfinden, auch wenn Unterdrückung nicht überwunden wurde.
Mariela Georg sei oft missverstanden worden: „Mein Ansatz ist nicht individualistisch. Es geht vielmehr um gesamtgesellschaftlichen Wandel. Nach meiner Ansicht geht kein Weg an Critical Wellness vorbei.“
Mariela Georg ist Empowerment-Trainerin für Menschen mit Rassismuserfahrungen & Mehrfachdiskriminierungen. Sie vereint in ihrem Trainingsansatz ihre drei Leidenschaften: Stresscoaching, Fitness und Psychologie. Sie hat Interkulturelle Personalentwicklung und Kommunikationsmanagement (M.A.) sowie Psychologie (B.Sc.) studiert und ist ausgebildete Mediatorin. Als Afro-Latina-Deutsche lässt sie sich zudem bei ihrer Arbeit vom Schwarzen Feminismus und Wissensquellen aus dem Globalen Süden inspirieren.