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“Vertriebene”, “Gastarbeiter”, “Vertragsarbeiter”, “Spätaussiedler”, “Migranten”, “Asylbewerber” und “Flüchtlinge” – allesamt Bezeichnungen für Menschen, die auf der Suche nach Schutz, Arbeit oder kurz “einem besseren Leben” nach Deutschland kommen und gekommen sind. Deutschland hat eine lange Geschichte als Einwanderungsland. Menschen, die in diesem Land leben, sind Teil einer Einwanderungsgesellschaft. Auch wenn diese Begriffe seit Jahren politisch umkämpft sind und einige Politiker*innen der Unionspartei bis zum Zuzug der syrischen Kriegsgeflüchteten 2015/2016 gebraucht haben, dies anzuerkennen, sprechen die Fakten eine klare Sprache:
- Ende 2019 lebten ca. 11,23 Millionen Ausländer*innen in Deutschland (12,5 % der Bevölkerung) (Statistisches Bundesamt 2019),
- 2018 besaßen 20,80 Millionen Bürger*innen einen Migrationshintergrund im engeren Sinne (25,5 % der Bevölkerung) (Mikrozensus 2018),
- Deutschland ist weltweit das zweitbeliebteste Einwanderungsland (World Migration Report 2020).
Ein positives Bekenntnis zu dieser Vielfalt (über ein naives “Multikulti” hinaus) und gleichberechtigte Teilhabe für alle gesellschaftlichen Gruppen sind die Ziele unserer Einwanderungsgesellschaft. Gleiche Zugangschancen und ein aktiver Ausgleich unterschiedlicher Interessen führen zu einem gelingenden Zusammenleben. „Es gibt ein neues deutsches Wir, die Einheit der Verschiedenen“, mit diesen Worten begründete Ex-Bundespräsident Joachim Gauck 2014 ein neues Selbstverständnis für die Einwanderungsgesellschaft – noch vor den weltweiten Migrationsbewegungen im Folgejahr. Dieses “neue deutsche Wir” besteht aus allen gesellschaftlichen Gruppen und dem selbstverständlichen Umgang mit Vielfalt. Integration ist dabei nicht als eindimensionaler Prozess der Assimilierung und “Eingliederung” in die Aufnahmegesellschaft zu verstehen. Vielmehr bedeutet gelungene Integration, dass alle Gruppen dazu ermächtigt sind, aktiv an der Gesellschaft teilzunehmen und sich strukturelle Unterschiede nach und nach auflösen. Dafür ist die Unterstützung der Aufnahmegesellschaft und kommunalen Verwaltung unerlässlich.
Unterschiedliche Bedürfnisse gestalten den Integrationsprozess
Menschen migrieren aus verschiedenen Gründen, dabei sind die Hürden zur Integration im Zielland für die Gruppe der Geflüchteten meist besonders hoch. Im Jahr 2019 waren es allein rund 71.000 volljährige Personen, die einen Asylerstantrag in Deutschland stellten.
Doch egal was ihre Motivation für die Zuwanderung war: Alle Neuankömmlinge haben unterschiedliche Bedürfnisse im noch fremden Land. Für eine gelungenen Integration gilt es diese zu befriedigen, damit Zuwander*innen nach und nach aktiv in die Aufnahmegesellschaft einbezogen werden. Einige Bedürfnisse sind dabei universell, wie das Bedürfnis nach Schutz, Anerkennung, Austausch und Teilhabe; diese gilt es ebenso zu adressieren wie spezifische Hilfestellung in Form von Rat und Unterstützung bei den bürokratischen Abläufen (s. Schaubild).
Die kommunale Verwaltung fungiert als Enabler und Vermittler in diesem mehrdimensionalen Integrationsprozess. Für Zugewanderte, insbesondere Geflüchtete, ist eine lokale Behörde meist die erste Anlaufstelle, wenn es um die Klärung existenzieller Fragen und Auskunft im Allgemeinen geht. Neben der unterschiedlichen und gemeinsamen Bedürfnissen der einzelnen Gruppen haben diese aber auch spezifische und geteilte Herausforderungen, die im vielschichtigen Integrationsprozess zu bewältigen sind.
Digitale Lösungen, die diese Bedürfnisse befriedigen
Die explosionsartige Gründung von Initiativen und Flüchtlingsprojekten im Zuge der weltweiten Fluchtbewegung ab dem Sommer 2015 zeigte eindrucksvoll, welchen Beitrag die Aufnahmegesellschaft zur Integrationsarbeit leisten kann. In einem kurzen Zeitraum sind vor allem in Berlin zahlreiche, oft digitale Initiativen aus der Zivilgesellschaft entstanden, die die teilweise überforderten Kommunen bei der Befriedigung erster Bedürfnisse der Geflüchteten unterstützt haben. Eine Studie des betterplace lab zeigt auf, welche Potenziale in digitalen Ansätzen zur Integration stecken:
- Niederschwelligkeit und Geschwindigkeit: Digitale Kanäle und Tools können schnell aufgebaut werden und bieten die Infrastruktur für voraussetzungsarme Vernetzung und Austausch.
- Skalierbarkeit: Digitale Ansätze entfalten eine weitreichende Wirkung durch einfache Reproduzierbarkeit und Vergrößerung der Reichweite.
- Bedarfsorientierung: Digitale Lösungen setzen an, wo es brennt, und können so kurzfristig Versorgungslücken füllen.
- Start-up-Mentalität: Digitale Initiativen leben oft von innovativen Ideen, die mit wenigen Ressourcen iterativ und schnell umgesetzt werden.
Die Analyse zeigt jedoch auch: “Es gibt so gut wie keine rein digitalen Projekte”. Integrationsansätze bewegen sich stets innerhalb eines Spektrums, in welchem verschiedene Online- und Offline-Aspekte kombiniert werden. Die wichtige Rolle der kommunalen Verwaltung liegt auch darin begründet, dass die Befriedigung erster Bedürfnisse nach dem Ankommen sowie persönlicher Austausch und Begegnung “vor Ort” stattfinden. Integrationsarbeit ist deshalb hauptsächlich lokal organisiert und persönliche Beziehungen vor Ort sind auch für digitale Maßnahmen entscheidend für eine erfolgreiche Umsetzung. Die skalierbare, digitale “Standardlösung” scheitert spätestens dann, wenn sie auf föderale Integrationsarbeit mit komplexen lokalen Strukturen trifft – so die wichtige Erkenntnis aus einer Studie des Stifterverbandes und betterplace lab. Auch das unterschiedliche Vorgehen kommunaler und digitaler Initiativen erschwert oft die Zusammenarbeit, genauso wie fehlende Digitalaffinität oder eingeschränkter Internetzugang auf Seiten der Zugewanderten oder der kommunalen Verwaltung.
Gelungene digital-analoge Integrationsarbeit
Deshalb besteht erfolgreiche Integrationsarbeit aus einem Zusammenspiel aller Sektoren und Akteur*innen. Digitale Angebote helfen dann die unterschiedlichen Bedürfnisse der gesellschaftlichen Gruppen zu befriedigen, wenn sie von Beginn an mit etablierten Hilfsorganisationen und der öffentlichen Verwaltung verzahnt sind – sozusagen im Analogen verwurzelt. Ein erfolgreiches Beispiel ist Info@Compass – eine Plattform für alle Neuberliner*innen, die in der Stadt Asyl suchen oder aus anderen Gründen zugezogen sind. Das gemeinschaftliche Projekt wurde von Beginn an zusammen mit der Berliner Stadtverwaltung entwickelt und stellt die wesentlichen Informationen für das (Zusammen-)Leben in der Stadt bereit. Idealerweise setzen die Projekte zudem von Beginn an auf Austausch zwischen Eingewanderten und der Aufnahmegesellschaft. Geschafft hat dies beispielsweise die Coding-Schule Devugees. 2016 mit dem Ziel damit gestartet, Geflüchtete schnellstmöglichst in den Arbeitsmarkt zu integrieren, heißt das Start-up heute Digital Career Institut und bietet als anerkannter Weiterbildungsträger vom Jobcenter finanzierte Kurse an – nicht nur für Geflüchtete.
Eine solche gesamtgesellschaftliche Ausweitung sollte das Ziel sämtlicher digitaler Integrationsprojekte sein, die auf von Zuwander*innen und Aufnahmegesellschaft geteilte Bedürfnisse eingehen. Der Integrationsprozess profitiert dabei von den Vorteilen digitaler Lösungen und die gemeinsame Angebotsnutzung hilft, Herausforderungen und Vorbehalten auf dem Weg zum “neuen deutschen Wir” zu begegnen.
Weiterführende Literatur: Impulspapier der Migrant*innenorganisationen zur Teilhabe in der Einwanderungsgesellschaft: Wie interkulturelle Öffnung jetzt gelingen kann! (2016) “Ohne interkulturelle Öffnung vergeudet Deutschland wichtige Zukunftspotenziale und treibt die Kosten durch fehlgeleitete Integrationspolitik in die Höhe. Interkulturelle Öffnung bedeutet, eine Gesellschaft zu gestalten, in der allen wirklich die gleichen Chancen eingeräumt werden. Es bedeutet auch, Rassismus und Diskriminierungen nachdrücklich zu ächten und zu sanktionieren.” Bürgersinn in der Einwanderungsgesellschaft: Was Menschen in Deutschland unter einem guten Bürger verstehen; Studie der Bertelsmann Stiftung (2018) “Trotz der gesellschaftlichen Vielfalt in Deutschland ist die Bevölkerung in grundlegenden Fragen des Zusammenlebens nicht gespalten. Zwischen Migranten und Nicht-Migranten wie auch West- und Ostdeutschen ist kein Gegensatz bei den grundsätzlichen Erwartungen an das Zusammenleben vorhanden” Leitbild und Agenda für die Einwanderungsgesellschaft : Ergebnisse einer Expert*innenkommission der Friedrich-Ebert-Stiftung (2017) “Wir brauchen dieses Leitbild, weil unsere Einstellung zur Einwanderung das Selbstverständnis von Staat und Gesellschaft berührt. Unser Umgang mit Vielfalt und gerechte Teilhabemöglichkeiten sind Gradmesser für unsere Demokratie, den sozialen Frieden und Sicherheit", sagt Staatsministerin Aydan Özoğuz, Vorsitzende der 38-köpfigen Kommission, die das Leitbild im Auftrag der FES erarbeitet hat.” |