Digitalisierung für gelebte Demokratie: Möglichkeiten zur Bürger*innenbeteiligung

Verdruss, Unzufriedenheit und fehlendes Vertrauen – die Politik hat einen schweren Stand bei der Bevölkerung. Große Teile stehen der Bundesregierung ebenso wie der Europäischen Union skeptisch gegenüber. Auch wenn die Zufriedenheit mit der deutschen Bundesregierung während der Corona-Krise zuletzt gestiegen ist, sollte das nicht über das weit verbreitete Misstrauen in die zentralen politischen Institutionen hinwegtäuschen. Nehmen wir das Beispiel EU: Lediglich 43 % der Europäer*innen haben noch ein allgemein positives Bild der EU – und 83 % wünschen sich, dass die Stimme der EU-Bürger*innen stärker berücksichtigt werden sollte. Viele Menschen fühlen sich nicht (mehr) durch die Politik in ihren Interessen vertreten; Parteien im vornehmlich rechten Spektrum gewinnen Wähler*innen, während die Volksparteien einen vehementen Mitgliederschwund erfahren. Seit einigen Jahren macht die “Demokratie in der Krise” Schlagzeilen.


Everyday Democracy und das Potenzial digitaler Beteiligung

“Modern democracies must be Everyday Democracies: they must be rooted in a culture in which democratic values and practices shape not just the formal sphere of politics, but the informal spheres of everyday life: families, communities, workplaces, and schools and other public services.” (Demos)


Demokratie ist das Recht auf Mitbestimmung, das Recht auf die Gestaltung des eigenen Lebens und das Recht auf die entsprechende Befähigung. Im Sinne einer Everyday Democracy entsteht Demokratie inmitten unserer Gesellschaft, in unserem täglichen Tun. Der Wunsch nach stärkerer Beteiligung an politischen Prozessen findet sich nicht nur auf EU-Ebene (s. o.), sondern ebenso auf Bundesebene, wie eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung aus dem letzten Jahr zeigt. Das verwundert insofern nicht, als dass mit der Digitalisierung gleichermaßen der Anspruch auf Transparenz und Mitsprache gestiegen sind und so ganze Branchen sich massiv verändern mussten. Ein Beispiel für diesen (disruptiven) Wandel liefern Finanzdienstleistungen: Immer mehr digitale Finanzinnovationen (auch FinTech) finden Akzeptanz und Anwendung in der breiten Bevölkerung: komplette Girokonten können auf dem Smartphone abgebildet werden (n26), Kund*innen dürfen sehr niedrigschwellig an der Börse mitspekulieren (Moneyfarm) oder bekommen einen Kredit unbürokratisch gewährt, den sie sonst nicht zugestanden bekämen (Kreditech). Wenn also selbst ein traditionsreicher und innovationsarmer Sektor wie der der Banken sich den neuen Bedürfnissen anpassen konnte, wo bleiben da vergleichbare (digitale – und damit einhergehend auch sozio-kulturelle) Innovationen für mehr Bürger*innenbeteiligung?

Beispielprojekte für Transparenz, Teilhabe und Mitbestimmung

In einigen europäischen Ländern wird bereits mit Online-Beteiligungsformaten experimentiert. Diese nutzen die Potenziale der Digitalisierung, um ihre Bürger*innen über die turnusmäßige Wahl hinaus in das politische Geschehen einzubinden.

Zunächst gilt es dabei Transparenz herzustellen und Bürger*innen mehr Informationen über die politischen Prozesse und Entscheidungen zugänglich zu machen. Außerdem benötigen die Bürger*innen mehr Einblick in die für eine Entscheidung relevanten Fakten. Dementsprechend informiert die DEMOCRACY App eines gemeinnützigen Vereins über aktuelle Themen des Deutschen Bundestags und macht das Abstimmungsverhalten von Abgeordneten sichtbar. Nutzer*innen können nicht nur digitales Politik-Controlling üben, sondern auch selbst ein virtuelles Bundestagsmandat ausführen. Je mehr kritische Bürger*innen teilnehmen, desto stärker wird das politische Gewicht ihrer Stimmen. Citizen Budget setzt dagegen beim Bürgerhaushalt an und wird als Online-Budgetkonsultations-Werkzeug bereits von über 90 Kommunen in den Vereinigten Staaten, Kanada und Frankreich verwendet. Bürger*innen bekommen auf der Plattform Einblicke in das Zustandekommen und die Zwänge des Haushaltes ihrer Stadt und können gleichzeitig ihre Meinung für den geplanten Jahreshaushalt einfließen lassen.

Manchmal braucht es aber noch einen Zwischenschritt zwischen Information und Entscheidung: der Austausch, die Debatte. Diskutier mit mir oder Deutschland spricht,... schaffen genau solche digitalen Räume für das Gespräch. Parlement & Citoyens geht als eine Online-Plattform aus Frankreich sogar noch einen Schritt weiter. Hier kommen Politiker*innen und die Bevölkerung zusammen, um konkrete Fragen zu diskutieren und gemeinsam Gesetzesentwürfe zu erarbeiten. Bürger*innen können so von zuhause aus ihre Ideen für konkrete Gesetze einbringen und im Nachgang überprüfen, ob, wann und wie ihre Beiträge in den resultierenden Gesetzentwurf eingeflossen sind. Idealerweise entsteht daraus eine Kollaboration “auf Augenhöhe” zwischen Bürger*innen und Politiker*innen.

Auf der Online-Plattform synAthina der Stadt Athen können einerseits Bürger*innen Anliegen einreichen und andererseits Regierungsstellen und zivilgesellschaftliche Organisationen Ideen unterbreiten, um für Zuspruch und Unterstützung zu werben. Durch diese Vernetzung zwischen Politikinteressierten und den entsprechenden Regierungsstellen kann ein ganz neuer Prozess entstehen, um zusammen Lösungen zu entwickeln und Programme aufzusetzen, die bereits deutlich mehr Akzeptanz in der Bürgerschaft erfahren.

All diese Projekte können gleichsam auf einer öffentlich zugänglichen Karte verfolgt werden. Dass viele Menschen durchaus bereit sind, sich politisch zu involvieren, insbesondere dann, wenn sie an Entscheidungen mitwirken können, die sie und ihr direktes Umfeld betreffen, zeigt sich auch anhand der positiven Resonanz auf eine Reihe kommunaler Beispiel- und Pilotprojekte in Deutschland und anderen europäischen Ländern. Die polnische Stadt Płock experimentiert bspw. mit neuen interaktiven Formaten, um die Bürger*innen bei der kreativen Erarbeitung eines Mobilitätskonzeptes einzubinden.

Anreize, Befähigung und Barrierefreiheit sind die Schlüssel

Die Herausforderung besteht natürlich darin, möglichst breite Bevölkerungsschichten – und nicht nur die jungen, gebildeten und technikaffinen Großstädter*innen – in politische Prozesse einzubeziehen. Anreize können darin bestehen, echte Entscheidungsbefugnisse an Bürger*innen zu übertragen (anstelle von bloßen Scheinbeteiligungen!), ihr politisches Engagement sichtbar zu machen und anzuerkennen oder mittels Gamification den Spaß in den Vordergrund zu stellen, “einfach mal mitzumachen”. Diesen Weg wollten die Veranstalter*innen des Projekts 12062020 gehen, das nun aufgrund der Corona-Pandemie nicht stattfinden kann. An einem einzigen Tag sollten über 70.000 Menschen im Olympia-Stadion in Berlin zusammenkommen, um live Petitionen zu unterschiedlichen politischen Fragen, vorrangig zur Klimakrise und Nachhaltigkeit, auszufüllen und damit politischen Druck auszuüben.

Solche öffentlichkeitswirksamen Projekte zeigen zwar ein ganz neues Demokratieverständnis mit Eventcharakter, dürfen allerdings nicht davon ablenken, dass viele Beteiligungsformate aktuell noch in der Praxis scheitern. Neben Transparenz sowie Barrierefreiheit in der Umsetzung sind Bildung und Motivation der Bürger*innen entscheidende Faktoren, die sich nicht über Nacht einstellen lassen. Schließlich will der Umgang mit solchen Beteiligungstools geübt sein und erfordert einen gezielten Aufbau der Demokratie- und Digitalkompetenzen; aula ist ein Projekt, das genau solche Fähigkeiten bereits in der Schule einüben möchte.

Zudem schafft nur die transparente technische Umsetzung das unabdingbare Vertrauen in ein politisches Online-Format. Datenschutz und Open-Source-Standards sollten stets genügend Rechnung getragen werden. Auch an Lösungen von privatwirtschaftlichen Internetkonzernen müssen diese Standards angelegt werden, wenn nicht direkt auf die Technologie und Plattformen von gemeinnützigen Organisationen wie mySociety.org oder D-CENT zurückgegriffen werden kann. In jedem Fall muss die Barrierefreiheit digitaler Demokratie-Lösungen höchste Priorität haben. Je nach Anwendungskontext und Zielgruppe kann und muss das Beteiligungsangebot entsprechend unterschiedlich ausgestaltet sein. Ziel ist jedoch immer, einen möglichst niederschwelligen Zugang für alle zu ermöglichen – angefangen von einer einfachen und intuitiven Bedienbarkeit bis hin zur verständlichen Aufbereitung der Inhalte. Ansonsten verstärkt sich abermals der Digital Divide, der jetzt schon Bürger*innen nicht nur nach ihrem generellen Zugang zum Internet unterscheidet, sondern auch in ihren digitalen Fähigkeiten. Gerade diese benachteiligten Menschen weiter aus dem politischen Prozess auszuschließen, wäre sicherlich fatal.

Foto: Annie Bolin | Unsplash

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Die erste Folge in der Resilienz-Reihe