Die aktuelle Krise trifft auf viel Solidarität und Hilfsbereitschaft in der Zivilgesellschaft. Das lässt hoffen. Und gleichzeitig wissen wir: Blanker Aktionismus wird nicht reichen, um den geflüchteten Menschen kurz- wie langfristig helfen zu können oder gar dauerhafte, resiliente Strukturen für die Integration von Menschen (insbesondere aus Krisengebieten) zu etablieren. Auch in der Engagementwelle von 2016 sind viele Initiativen aus dem Boden gestampft worden, um unbürokratisch und direkt zu helfen. Doch skaliert hat davon kaum etwas, stattdessen haben sich Ehrenamtliche aufgerieben.
Aus der Krise damals müssen wir lernen, um gleiche Fehler zu vermeiden und den vielen Tausend Kriegsgeflüchteten die Hilfe zu geben, die sie jetzt benötigen. Digitale Technologien spielen dafür eine Schlüsselrolle, weil sie Informationen schnell vermitteln können, Kommunikation erleichtern und dezentrale Zusammenarbeit ermöglichen. Das betterplace lab hat die damals entstandene Landschaft der digitalen Hilfsangebote untersucht. In verschiedenen Studien und Artikeln (unten aufgelistet) haben wir Handlungsempfehlungen formuliert, die für zivilgesellschaftliche Akteur*innen jetzt (erneut) besonders relevant sind:
Bedarfslage prüfen und Angebote für die Lebensrealität der Zielgruppen entwickeln.
Gerade packen alle mit an, die können. Oftmals sind das keine vormals Ehrenamtlichen und keine Expert*innen, weder im Bereich Flucht und Migration, noch zur Frage der digitalen Nutzungsgewohnheiten von Ukrainer*innen. Doch dieses Wissen ist wichtig, wenn man digitale Angebote schaffen möchte, die sich nicht nur gut und richtig anhören, sondern tatsächlich genutzt werden. Sind Menschen in der Ukraine eigentlich auf Facebook, WhatsApp oder Telegram? Oder nutzen sie etwas ganz anderes? Wo kommunizieren sie? Wie können sie nun von den Angeboten erfahren, die die Zivilgesellschaft gerade (weiter-)entwickelt – seien es Informationen zu Mobilität oder Unterbringung. Haben überhaupt alle in der Ukraine wie unterwegs auf der Flucht Internetzugang oder braucht es analoge Erweiterungen der Angebote? Und was benötigen Menschen, die gerade vom Krieg traumatisiert ihr Land verlassen? Wie sprechen wir sie an? Womit müssen sie sich unbedingt genau jetzt befassen und was kann warten?
Damit digitale Angebote der Zielgruppe entsprechend gestaltet werden, dürfen diese nicht entlang der eigenen Annahmen entworfen, sondern müssen mit dem tatsächlichen Nutzungsverhalten der Neuangekommenen abgeglichen werden. Dies gilt für die Engagierten-Seite übrigens genauso: Wird nun wirklich die neue ausgefuchste Plattform für Engagierte gebraucht? Braucht es überhaupt eine richtige Plattform, die erst dann Effizienz verspricht, wenn möglichst vollständig Angebots- und Nachfrageseite dort versammelt sind? Oder gibt es einfachere Wege, die beiden Gruppen zusammenzubringen? Haben wir außerdem die hohe (psychische) Belastung mitgedacht und adressiert, unter der Engagierte stehen, die sich wortwörtlich aufopfernd einer schier unlösbaren Herausforderung entgegenstellen? Für diese Fragen lohnt es, Expert*innen früh hinzuzuziehen – aus den Bereichen Flucht und Migration, aus krisenerfahrenen Hilfsorganisationen und Menschen, die nah an den Zielgruppen dran sind. Diese können oft besser einschätzen, ob eine Idee kurz-, mittel- oder langfristig Mehrwert verspricht, noch bevor die erste Programmierer*in sich dransetzt. Das kostet Zeit und erfordert einen Schritt zurückzutreten, was natürlich in der absoluten Ausnahmesituation fast unmöglich erscheint. Wir wollen und müssen JETZT helfen. Doch gilt gleichzeitig, dass zielloses Engagement verschwendet ist und eben nicht die Notlage der Geflüchteten verbessert.
Außerdem gilt es sich zu vergegenwärtigen, dass für komplexe Problemlagen keine Quick-Wins zu erwarten sind: Ein kurzzeitig anberaumter Hackathon mag zwar junge, digital-versierte Menschen versammeln, kann aber qua Format kaum die lange Strukturarbeit aufnehmen oder verarbeiten, die es für die Bewältigung der Herausforderungen braucht. Idealerweise ist zu unterscheiden, zwischen Ad-hoc-Lösungen mit kurzer Halbwertszeit für den Übergang – also eine Form von “direkter Nothilfe” – und solchen, die auf lange Sicht ent- und auch weiterentwickelt werden.
Gewisse Ineffizienzen zu Beginn akzeptieren, dann Parallelstrukturen vermeiden und kollaborieren.
Wie damals entstehen im Moment viele (teils regionale, teils überregionale) Angebote für die gleichen Bedarfe wie damals: Unterkünfte werden digital vermittelt, Sachspenden und Transporte online koordiniert und Informationen via digitaler Websiten, Apps oder Social Media geteilt. Bei all der Dezentralität entstehen parallel viele ähnliche Ansätze, die unter Umständen lokal für den Moment sinnvoll erscheinen, aber schon sehr bald mit vereinten Kräften und gebündelten Nutzer*innen viel besser funktionieren könnten.
Gerade der Aspekt Lokalität sollte Beachtung finden: Auch wenn Großstädte oftmals ein Hub für die Entstehung innovativer Lösungen sind, muss die Umsetzungsebene auch abseits des urbanen Raums stattfinden (z. B. konkret die Vermittlung Geflohener in ländliche Räume). Eine gewisse Ineffizienz ist bei der Entstehung neuer Initiativen nicht zu umgehen, doch ist es wichtig, an einem Punkt auch von der eigenen Idee zurückzutreten und zu evaluieren, ob die angedachte Lösung auch in der Realität funktioniert. Braucht es wirklich eine neue App, um Menschen zusammenzubringen? Ist es die beste Lösung, ein Angebot als Initiative allein weiter zu betreiben, oder lieber mit ähnlichen Anbietern gemeinsam? Mehrere Unterkunfts-Plattformen ergeben bspw. weder für die Inserierenden, noch für die Suchenden Sinn. Um Kräfte bündeln zu können ist es wichtig, möglichst früh Gespräche mit anderen zu führen, die ein ähnliches Ziel verfolgen. 2016 wurde ein “Digitaler Flüchtlingsgipfel” ins Leben gerufen, um die vielen Initiativen miteinander zu vernetzen und Bündelung und Konsolidierung voranzutreiben (die erste von Partnern organisierte Konferenz trug den Titel “More wood behind fewer arrows"). Die damaligen Erfahrungen zeigen, dass Koordination zu Beginn essentiell ist, damit es nicht zu Fragmentierung kommt. Spätestens für den Schritt der Verstetigung und Skalierung wird zwangsläufig verhandelt werden müssen, welche Angebote und Initiativen “überlebensfähig” sind; besser ist, diesen Punkt schon jetzt selbstkritisch zu betrachten.
Gerade für den Austausch mit weiteren, etablierten Akteur*innen ist es wichtig, neben der Evaluation des Angebots auch die Unterschiede in Organisations- und Arbeitskultur kennenzulernen und zu adressieren.
Besonders deutlich wurde das ab 2015 immer dann, wenn es zur Zusammenarbeit mit Behörden und Verwaltungen kam, die ganz offensichtlich eine andere Arbeitskultur und ein anderes Wertesystem als digitale Start-ups pflegen und entsprechend anders kommunizieren.
Entwicklungsphasen beachten, Standortbestimmung vornehmen.
Soziale Innovationen sind eine Reaktion auf äußere Krisen. In ihrem Lebenszyklus lassen sich verschiedene Phasen unterscheiden und entsprechend adressieren. Eine Standortbestimmung hilft dabei, den nächsten logischen Schritt vorzubereiten.
• Expansionsphase: Aktuell erleben wir eine Welle der Solidarität. Hunderte Menschen versammeln sich an deutschen Bahnhöfen, um Ankommende in Empfang zu nehmen, auf den Straßen demonstrieren Menschen und die sozialen Medien sind voll von Solidaritätsbekundungen. Auch die Spendenbereitschaft ist aktuell sehr hoch. Stand Anfang März wurden schon knapp 1,3 Millionen Euro über die Online-Spendenplattform betterplace.org gesammelt. In dieser “Expansionsphase” kann es passieren, dass mehr Hände zum Helfen da sind als akutes Anpacken notwendig ist. So stieß die Deutsche Bahn angesichts der vielen freiwilligen Helfer*innen und Sachspenden am Berliner Hauptbahnhof zuletzt an ihre Kapazitätsgrenzen. Doch wie sieht das in ein paar Wochen aus? Andererseits konsolidieren sich die Hilfsprojekte: Teams haben sich gefunden, ein mögliches Matchmaking auf Plattformen funktioniert automatisiert, Engagierte können gezielt für Offline-Unterstützungsangebote angefragt und koordiniert werden, die Kommunikation in Engagierten-Teams verläuft weniger hektisch.
• Konsolidierungsphase: In dieser Phase zeigt sich, welches neu entstandene oder reaktivierte digitale Angebot trägt – weil es wirklich auf einen Bedarf einzahlt und es geschafft hat, eine kritische Masse an Menschen damit zu erreichen. Auf Seiten der zivilgesellschaftlichen Initiativen steigt die Bereitschaft zum Austausch und zur Kooperation mit anderen.
Zum Beispiel erscheint es sinnvoll, dass etwa eine digitale Unterkunftsvermittlung mit der lokalen Verwaltung zusammenarbeitet, um Neuangekommenen neben der Erstunterkunft später auch bei der Wohnungsvermittlung helfen zu können. Es ist ratsam, frühzeitig den Austausch mit Behörden und etablierten zivilgesellschaftlichen Akteur*innen zu suchen. Zudem ist zu erwarten, dass es neben der Ersthilfe, die vor allem die lebensnotwendigen Dinge regelt, andere Angebote mit dem Ziel der langfristigen Integration braucht. Wenn Menschen nicht mehr in ihre Heimatländer zurückkehren können, braucht es Angebote für Spracherwerb, Bildung und Arbeitsmarktintegration. Hier ist eine gewisse Vorausschau angemessenen, die teils auch die Zielgruppe vergrößert: Damit solche Angebote nicht isolierend wirken, ist es wichtig, diese nicht “nur” für Geflüchtete zu gestalten, sondern auch migrierte Menschen und die heimische Bevölkerung mit einzubinden – für den Bereich Sprache etwa denkbar in Form eines Sprachtandems.
• Rückgang: Je nachdem, wie die Situation sich entwickelt, ist auch ein Rückgang an Engagement zu erwarten. In der medialen Berichterstattung tritt ein Gewöhnungseffekt ein, Engagierte sind müde, gar ausgebrannt. Abseits davon, dass Solidarität kein Sprint sein sollte, ist auch in der Landschaft aus entstandenen Lösungen abzusehen, dass diese perspektivisch um Ressourcen wie Geld und Engagierte konkurrieren werden. Einige Lösungen – gerade solche, die in der anfänglichen Phase der Erst-Koordinierung tätig waren – werden nicht mehr gebraucht, andere werden es nicht schaffen, dauerhaft bestehen zu bleiben. Falls es vorher nicht bereits zu Kooperationen gekommen ist, ist nun der Zeitpunkt gekommen, über ein Zusammenlegen von Lösungen nachzudenken (gibt es z. B. mehrere Koordinierungs-Plattformen von Engagierten, die zusammen besser funktionieren würden?) oder auch eine Exit-Strategie anzugehen. Dies kann ganz einfach bedeuten, ein bestimmtes Projekt einzustellen, und den Wissenstransfer der gewonnenen Expertise in ein anderes, erfolgreicheres Projekt sicherzustellen, bevor die eigene Seite oder App vom Netz geht.
Wellbeing ist mehr als mal durchzuatmen.
In Zeiten gefühlter Ohnmacht ist anderen zu helfen zum Teil auch Selbsthilfe. Zwar kann sich das Helfen einerseits gut anfühlen, doch andererseits ist die direkte Auseinandersetzung belastend – auf einer pragmatischen wie emotionalen Ebene. Die Krisen unserer Zeit werden sich nicht Wegatmen lassen. Und doch ist es wichtig, sich selbst und das eigene Umfeld wahrzunehmen und zu stützen. Hier ist neben organisatorischen Aspekten (Wie häufig kann und will ich mich einbringen?) vor allem die Frage nach der inneren Stabilität entscheidend: Wird Wellbeing im öffentlichen Diskurs häufig als Wellness falsch verstanden, meint es genau diese Fähigkeit, mit inneren Spannungen achtsam und bewusst umzugehen. Diese Kompetenz will erlernt sein, und sie braucht Praxis. Selbstkontakt, Selbstreflexion und transparente, gewaltfreie Kommunikation sowie Empathie sind Schlüsselelemente – gerade wenn es auch in den ehrenamtlichen Teams hektisch wird, alles auf einmal passieren muss und (gefühlt) einfach kein Moment bleibt, um einmal innezuhalten oder sich wirklich auf die andere Person zu beziehen. Zwischendurch einen Gesprächsraum zu eröffnen, in dem überfordernde Emotionen Ausdruck finden dürfen, die wir momentan alle fühlen, kann entlastend sein. Auch ein gemeinsames Reflektieren über Erfolge und Verbesserungsmöglichkeiten am Ende einer Arbeitswoche kann die Zusammenarbeit stärken. Doch genauso wichtig ist Abgrenzung, diese beinhaltet auch Digital-Hygiene, also nicht ständig und für alle erreichbar zu sein.
Für die akute(n) Krise(n) unserer Zeit und die, die noch kommen werden, brauchen wir eine neue Form gesellschaftlicher Resilienz, die uns erlaubt, durch eine unsichere Zukunft zu navigieren. Diese Fähigkeiten kollektiv zu entwickeln und zu stärken wird eine zentrale Zukunftsaufgabe sein, und wir sind schon mittendrin. Sinnvolle digitale Angebote sollten nicht nur in der Nothilfe zum Einsatz kommen, sondern dauerhafter Bestandteil sein, gesellschaftlichen Zusammenhalt in der digitalen Welt zu stärken.
Weiterführende relevante Publikationen zum Thema
Digitale Wege zur Integration (betterplace lab, 2017): Als in den Jahren 2015 bis 2016 über eine Million Geflüchtete nach Deutschland kamen, löste das nicht nur eine beeindruckende Welle zivilgesellschaftlichen Engagements aus, es wurden auch zahlreiche innovative Ansätze entwickelt, um dieses Engagement zu koordinieren und Geflüchtete bei ihrer Ankunft zu unterstützen. Zwei Jahre später untersuchten wir, was aus den Projekten geworden ist und welches Potenzial digitale Ansätze bei der Integration von Geflüchteten haben.
Refugee Tech. The hype and what happened next (Digital Social Innovation/betterplace lab, 2019): Der Bereich Migration und Integration bildet ein Cluster im DSI4EU-Projekt, (DSI – Digital Social Innovation). Im Kontext dieses Projekts haben wir das außergewöhnliche Ausmaß und die Geschwindigkeit der DSI-Reaktion auf die Ereignisse von 2015/16 analysiert und beleuchtet, wie diese sich noch Jahre später auswirken und welche Lehren aus den Erfahrungen für künftige dringende Situationen gezogen werden können.
Digital Litter: The Downside of Using Technology to Help Refugees (Migration Policy Institute, 2019): Dieser Artikel beleuchtet, wie die damals entstandenen Organisationen einerseits Direkthilfe leisteten, andererseits aber aufgrund fehlender Nachhaltigkeit und bei Nachlassen des Funding-Hypes auch schädliche Folgen haben konnten – gerade, wenn Informationen veraltet oder falsch dargestellt wurden.
Intersect(betterplace lab, 2018): Die Studie portraitiert die Entwicklung der 2015/16 entstandenen Projektlandschaft mit einem Fokus auf intersektorale Zusammenarbeit der Zivilgesellschaft im Bereich Integration. Thematisiert werden Herausforderungen und Lösungswege für die Zusammenarbeit unterschiedlicher Akteur*innen sowie bei der Verknüpfung digitaler und analoger Strukturen.
Programm zu Kollaboration und Wellbeing des betterplace lab: Im betterplace lab können zivilgesellschaftliche Organisationen kostenfrei an Workshops teilnehmen, in denen sie Kompetenzen zu Kollaboration und Wellbeing lernen. Die Workshop-Einheiten werden über den Zeitraum von sechs Monaten angeboten. Auch wenn dies weniger Soforthilfe ist, so können die Programme dabei unterstützen, die kommenden Monate gemeinsam, effektiver und mental gestärkt zu bewältigen.
Neue Krise, neue Probleme – Was haben wir aus der Engagement-Flut 2016 gelernt?(betterplace lab, 2020): Analyse des Engagement-Zyklus als Reaktion auf neue Krisen.
Das Scheitern der Flüchtlings Technologie (betterplace lab, 2018): Analyse der größten Fehler im digital-sozialen Engagement während der sogenannten Migrationsphase 2015/16.
Einwanderungsgesellschaft: Von Barrieren, Teilhabe und analog-digitalen Ansätzen (betterplace lab, 2020): Kurzer Abriss gelungener Ansätze für dauerhafte digital-analoge Integrationsarbeit.
Die Ansprechpartner*innen für dieses Thema sind:
Katja Jäger: katja.jaeger@betterplace-lab.org
Stephan Peters: stephan.peters@betterplace-lab.org
Titelfoto: Dziurek / Alamy Stock Photo