Eine vergleichende Kurzanalyse der Geflüchteten-Situation 2015/16 und heute. Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede zeigen sich bereits in den ersten digitalen Initiativen zur Geflüchtetenhilfe?
“Das Engagement in dieser Krise ist umwerfend. Das haben wir so noch nicht erlebt.” Das haben wir 2015 geschrieben, als in diesem und dem Folgejahr letztlich über eine Million Menschen nach Deutschland kamen, auf der Flucht vor einem Krieg und mit der Hoffnung, ein wenig Ruhe zu finden, die eigenen Kinder in einem friedlichen Land aufwachsen zu sehen, die eigene Ausbildung weiter zu führen, zu arbeiten. Das Eintreffen vieler Geflüchteter damals löste nicht nur eine beeindruckende Welle zivilgesellschaftlichen Engagements aus, es wurden auch zahlreiche innovative, digitale Ansätze entwickelt, um dieses Engagement zu koordinieren und Geflüchtete bei ihrer Ankunft zu unterstützen. Wir haben frühzeitig angefangen, diese Initiativen (unter dem Begriff “Digital Refugee Projects” zusammengefasst) zu verfolgen und zu analysieren. Eine fortlaufende Liste aller Initiativen ist nach wie vor öffentlich verfügbar (für Hinweise und Ergänzungen sind wir dankbar).
Heute, sieben Jahre später, müssen erneut über zwei Millionen Menschen vor dem Krieg fliehen. Und wieder macht uns die Solidarität und das ehrenamtliche Engagement weiter Teile der Bevölkerung Hoffnung. Im Folgenden wollen wir betrachten, welche Initiativen, die sich in Folge der Migration 2015 und 2016 gebildet haben, heute noch aktiv sind, und welche neuen Digital-Ansätze sich nun in Reaktion auf den grausamen Krieg in der Ukraine gebildet haben. Um daraus zu lernen.
Neue Digital Refugee Projects
Innerhalb von zwei Jahren konnten wir in Folge der Aufnahme von Geflüchteten 2015/16 125 Digitale Initiativen für Geflüchtete in Deutschland zählen. Diese umfassten ein weites Spektrum koordinierter Hilfeleistungen, u. a. in Bezug auf Unterbringung, Spracherwerb, psychologische Betreuung oder Arbeitsmarktintegration. Auf den ersten Blick mögen die 23 Projekte, die nun in Reaktion auf den Krieg gegen die Ukraine initiiert wurden, gering erscheinen. Berücksichtigen wir allerdings, dass sich diese 23 Projekte in weniger als einem Monat seit Kriegsausbruch formiert haben – allesamt mit dem Anspruch, skalierte Lösungen zu bieten, die potentiell jeweils vielen Hundert oder gar Tausend Geflüchteten helfen sollen – ist das erneut eine unglaubliche Leistung größtenteils ehrenamtlichen Engagements! Außerdem haben wir 2015 gesehen, dass sich schnell neue Allianzen und Initiativen gebildet haben, allerdings erst ein paar Wochen oder Monate später ihr Angebot online bringen konnten. Auch deshalb ist diese Zahl als allererster Indikator zu verstehen.

Ein besserer Vergleich wäre also die jetzige Situation mit der Ende August 2015 gegenüberzustellen, als ebenfalls höchstens vier Wochen nach der bundesstaatlichen Weisung, Geflüchtete aus Syrien in Deutschland nicht länger abzuweisen, vergangen waren. In den Wochen bis Ende September entstanden damals 19 Digital Refugee Projects in Deutschland, also ähnlich viele wie jetzt bis Mitte März 2022. Zwischen diesen beiden Höhepunkten, was den Zuzug von Geflüchteten angeht, konnten wir übrigens nur 5 Neugründungen identifizieren. Neugründungen sind also fast ausschließlich an Krisen geknüpft.
Sollte es ähnlich zu 2015 und 2016 verlaufen, wären in den nächsten Wochen eine Reihe weiterer Initiativen zu erwarten, bis die Neugründungen abrupt ein Ende finden – und eine Phase der Konsolidierung eintritt. Ob sich dieses Muster wiederholt, ist zum einen von der Entwicklung an den Bahnhöfen und der dazugehörigen Berichterstattung abhängig – sehen wir eine fortschreitende Verschärfung der Krise, die weiteres Engagement und solidarisches Miteinander erfordert? – und von dem Grad der Vernetzung zwischen diesen Initiativen sowie der öffentlichen Hand (vgl. unsere Studie “Blended Impact”). Diesbezüglich lassen sich jetzt schon Fortschritte im Vergleich zu 2015 ausmachen, wie z.B. durch gegründete Netzwerke (Alliance4Ukraine) oder frühzeitige Kooperationen zwischen Non-Profit-, For-Profit- und staatlichen Institutionen (#UnterkunftUkraine).
Alte Digital Refugee Projects
Der Unterschied zu damals besteht außerdem darin, dass es 2022 also bereits (potentiell) 130 digitale Initiativen geben könnte, die über Jahre Erfahrungen sammeln konnten, um jetzt bei Kriegsausbruch direkt ihre Leistungen für die ankommenden Menschen bereitstellen zu können. Jedoch haben inzwischen (Stand: 21.3.22) von den besagten 130 Initiativen 82 ihr Angebot gänzlich eingestellt – lediglich ein knappes Drittel (48 Initiativen) ist noch online erreichbar, wobei auch davon viele ihre Informationen und Leistungen über einen längeren Zeitraum nicht mehr aktualisiert haben. Bei genauer Prüfung hat nur ein Viertel dieser Initiativen (11) ihr Angebot in Folge des Ukraine-Kriegs angepasst, ein weiteres Viertel (11) hat zumindest via Social Media Bezug zu den aktuellen Geschehnissen genommen.
Unterm Strich sind von den 130 Digital Refugee Projects, die seit 2015/16 initiiert wurden, lediglich noch 22 aktiv in der Fortführung und Weiterentwicklung – also genau eines weniger als die 23 Neugründungen der letzten vier Wochen.

Welche Entwicklungsstadien Digital Refugee Projects durchlaufen und welche Gründe dafür verantwortlich sind, dass ein Großteil ihre aktive Arbeit einstellen musste, haben wir in Studien wie “Refugee Tech - the Hype and what happened next” untersucht.
Aktuell setzt sich das Feld der Digital Refugee Projects zusammen aus:
Neugründungen von Digital Refugee Projects (z. B. Imagine Ukraine),
Fortbestehen etablierter Digital Refugee Projects ohne (bisherige) Anpassung an die spezifischen Bedürfnisse der Geflüchteten aus der Ukraine (z. B. ReDI School of Digital Integration),
Fortbestehen und Aktualisierung der Informationen oder auch Leistungen hinsichtlich der spezifischen Bedürfnisse der Geflüchteten aus der Ukraine (z. B. Freifunk),
Reaktivierung einer bestehenden Initiative, nachdem sie zwischenzeitlich eingestellt worden war (z. B. volunteer planner).
Digital Refugee Projects in Aktion
Damals sahen wir in der ersten Phase vor allem Digital Refugee Projects, die auf Koordination (von Ehrenamtlichen, Sachspenden etc.) und Orientierung (Informationen für Geflüchtete) abzielten. Auch heute sind diese Kategorien besonders stark vertreten, wobei sich 2022 nun auch viele Initiativen um die Unterbringung von Geflüchteten kümmern, Foren zum Austausch schaffen und Angebote insbesondere für die mentale Gesundheit der Geflüchteten bereitstellen möchten.
In Bezug auf die Gesundheitsversorgung werden häufiger bereits bestehende Angebote (z. B. Krisenchat) als Ressource für Geflüchtete zur Verfügung gestellt, wenngleich zuvor eine andere Zielgruppe (Jugendliche in Lebenskrisen) im Fokus war; in Bezug auf die Unterbringung hingegen werden eine Reihe unterschiedlicher Initiativen neu entwickelt und einzelnen, noch bestehenden Initiativen (z. B. Zusammenleben willkommen) zur Seite gestellt. Ausgeglichen scheint es aktuell bei Digital Refugee Projects mit dem Ziel der Koordination. Dort finden sich Initiativen, die sich seit 2015 (z. B. GoVolunteer) weiterentwickelt haben genauso wie Neugründungen als spezifische Landing Pages (z. B. Schnelle Hilfe für die Ukraine).
Es ist davon auszugehen, dass sich in den nächsten Monaten zunehmend Initiativen an den Start begeben werden, die die langfristige Integration von Geflüchteten in die Gesellschaft zum Ziel haben. Themen wie Spracherwerb, Ausbildung, Arbeitsvermittlung und kulturelle Teilnahme werden dann wichtiger als Ersthilfe – ein Verlauf, den wir auch 2016 beobachten konnten. Gleichzeitig ist eine allmähliche Konsolidierung inkl. Rückgang erster Ad-hoc-Gründungen zu erwarten, da sich entweder der Bedarf deckt oder die Energie der Ehrenamtlichen erschöpft. Gerade um dieser Erschöpfung möglichst frühzeitig vorzubeugen, bieten wir kostenlos Workshops zur Selbstfürsorge für Engagierte mit Bezug zur aktuellen Situation an.
Wie weiter?
Im betterplace lab werden wir diese Entwicklungen weiter verfolgen. Wir möchten mit unseren Learnings aus 2015 und den Folgejahren dazu beitragen, dass im Bereich Migration/Integration nachhaltige, resiliente Strukturen entstehen, die sektorübergreifend Lösungen für die Geflüchteten bereitstellen.
Die Ansprechpartner*innen für dieses Thema sind:
Katja Jäger: katja.jaeger@betterplace-lab.org
Stephan Peters: stephan.peters@betterplace-lab.org
Titelfoto: Markus Spiske / Pexels