Desinformation kann – so irritierend es im ersten Moment klingen mag – als Wertschöpfungskette beschrieben werden. Denn für einige Akteur*innen entsteht dadurch Wert: Macht, Einfluss, Geld. Um den Entstehungs- und Verbreitungsprozess von Desinformation darzustellen und greifbar zu machen, entwickelte das betterplace lab in einem kollaborativen Projekt gemeinsam mit Vince&Vert und codetekt (aufbauend auf der Arbeit von legacies.now) eine interaktive Karte. In dieser betrachten wir Desinformation zunächst als Information und beschreiben den Prozess von ihrer Entstehung bis zur Wirkung in fünf ineinandergreifende Phasen: Initiieren – Produzieren – Platzieren – Verbreiten – Beeinflussung. Innerhalb jeder dieser Phasen fragen wir im ersten Schritt, wer die Akteur*innen sind und welche Beweggründe sie haben, Teil dieser Phase zu sein. Im zweiten Schritt untersuchen wir, welche Methoden eingesetzt werden.
Die russische Beeinflussung der US-Wahlen 2016 in fünf Phasen
Sehr gut beschreiben lässt sich diese Wertschöpfungskette am Beispiel der Beeinflussung der US-Präsidentschaftswahl 2016 durch den Kreml. Das Ganze lief in unserem Schema ausgedrückt kurz zusammengefasst so ab:
Initiieren: Gehen wir noch ein paar Jahre weiter zurück und erinnern uns an Putins Rede auf der 43. Münchner Sicherheitskonferenz 2007, in der er sagte: "Ich denke, dass für die heutige Welt das monopolare Modell nicht nur ungeeignet, sondern überhaupt unmöglich ist. Ein Machtzentrum, ein Kraftzentrum, ein Entscheidungszentrum. Dieses Modell ist für die Welt unannehmbar. Es ist vernichtend, am Ende auch für den Hegemon selbst." Seine Worte signalisieren deutlich, dass er eine Verteilung der Macht in der Welt erkennt, die ihm ausdrücklich missfällt. Angesprochen ist dabei die Supermacht USA in Verbindung mit den Verbündeten in Europa. Was liegt also näher, als die Destabilisierung dieses Machtzentrums? Um dieses geopolitische Ziel zu erreichen, versucht Russland bis heute in den Ländern “des Westens” Einfluss zu nehmen, wie im Fall der US-Wahlen 2016, bei der Russland auf Desinformation setzt. Welche enorme Wirkungskraft staatlich organisierte Desinformationskampagnen entfalten können und wie stark ihre Wirkung auf die öffentliche Meinung in einem Land ist, weiß der ehemalige KGB-Agent Putin. Der russische Staat setzt bei seinen Operationen große finanzielle und personelle Ressourcen ein.
Produzieren: Die russische Medienagentur „Internet Research Agency“ (IRA) mit Sitz in Sankt Petersburg und Verbindungen zum russischen Geheimdienst führte im Vorfeld der US-Präsidentschaftswahlen 2016 eine groß angelegte Desinformationskampagne vor allem auf den sozialen Medien durch, die Anhänger*innen von Donald Trump radikalisieren und seine Gegner*innen verunsichern sollte. Diese Kampagne wurde laut Geheimdiensterkenntnissen der USA direkt von Putin angeordnet [Artikel im Guardian, Artikel im Spiegel].
Platzieren: Über 1000 Mitarbeiter*innen der IRA legten (schon lange im Voraus) Mengen an gefälschten Social-Media-Accounts an und nutzten diese auf Facebook, Twitter, YouTube und Instagram, um sich in politischen Diskussionen von US-Bürger*innen zu mischen und Inhalte so oft wie möglich zu platzieren. Dadurch entstand der Eindruck, dass die eingebrachten Themen stark diskutiert werden. Bots und gezieltes Microtargeting wurden unterstützend genutzt, um insbesondere Trump-Anhänger*innen effektiv zu erreichen.
Verbreiten: Viele Posts der IRA wurden von Trump-Unterstützer*innen tausendfach weiterverbreitet und erhielten so eine größere Reichweite. Die IRA konnte durch gezielte Aufrufe auf Facebook sogar reale Demonstrationen des Trump-Lagers provozieren. Wir können uns noch gut erinnern, dass auch außerhalb des Trump-Lagers jeder provokative Post des Präsidentschaftskandidaten aufgegriffen wurde und sämtliche polarisierenden Inhalte im Zusammenhang mit der Präsidentschaftswahl große Beachtung fanden. Medien, Organisationen, Politiker*innen und Bürger*innen auf der ganzen Welt sprangen quasi über jedes einzelne Stöckchen.
Beeinflussung: Die Kampagnen verfehlten nicht ihren Zweck und konnten dazu beitragen, die Wähler*innen in den USA in ihrer Meinung zu beeinflussen. Es fand eine starke Polarisierung in der Gesellschaft statt. Donald Trump gewann die Wahlen – unter anderem, weil er in den sozialen Medien das dominierende Gesprächsthema war. Die US-amerikanische Demokratie wurde geschwächt.
Die an diesem Beispiel aufgezeigte Hebelwirkung, die durch die einzelnen Phasen der Wertschöpfungskette erzielt werden konnte, lässt sich ebenso gut bei Desinformation im Zusammenhang mit dem Krieg gegen die Ukraine erkennen. Zur gezielten Beeinflussung der Gesellschaft innerhalb und außerhalb Russlands hat Faktenchecker Oleksandr Zamkovoi in einem der Content Calls im Programm REALIES einen Vortrag gehalten. In unseren Notizen wirst du einige der beschriebenen Mechanismen wieder erkennen. Auch diese Desinformationen lassen sich im Raster der Wertschöpfungskette abbilden.
Makro- und Meso-Trends
Doch alleine auf die Wertschöpfungskette zu schauen genügt noch nicht, um das “System Desinformation" gänzlich zu erfassen. Ergänzend blicken wir also auf Makro- und Mesotrends, die uns Erklärungsansätze für das Bestehen von Desinformation in dieser Welt liefern. Die Einordnung in gesellschaftliche und (geo-)politische Entwicklungen ist wichtig, um zu ergründen, weshalb Desinformation jeweils verfängt und daraufhin an den richtigen Stellen anzusetzen. Nur ein solch ganzheitlicher Blick kann dem Phänomen Desinformation Lösungen entgegensetzen, die nachhaltig wirken.
Der Begriff Trend steht hierbei für Muster, "die unsere Welt über einen längeren Zeitraum beeinflussen und in weite Bereiche der Gesellschaft hineinreichen.” (1) Dabei halten wir die Fragmentierung der Gesellschaft in verschiedene soziale Gruppen mit jeweils unterschiedlichen subjektiven Weltbildern und Werten, Verhaltensmustern und Lebensweisen für eine grundlegende Dynamik. In einer fragmentierten Welt besteht zwischen sozialen Gruppen oft keine Verbindung oder sie stehen sich gar feindselig gegenüber. Innerhalb der jeweiligen Gruppe klammern Menschen breite Aspekte der Realität aus und lehnen sie als fremd, eventuell bedrohlich und oftmals minderwertig ab. Ein solches Klima bietet beste Bedingungen für das Entstehen und die Verbreitung von Desinformation. So wie wir Desinformation verstehen, ist sie “sowohl Ausdruck als auch Ursache größerer gesellschaftlicher, epistemischer und ideologischer Spaltungen. Sie entsteht entlang der Bruchlinien und verstärkt diese nochmals.” (2)
Da wir es mit Desinformation im digitalen Zeitalter zu tun haben, entwickelt sie eine enorme Wirkkraft und das in rasender Geschwindigkeit. Die technisch verstärkte Desinformation trifft wiederum auf Individuen deren “Kapazität, mit der zeitgenössischen Komplexität umzugehen und adäquate Lösungen für große Herausforderungen wie Klimakrise und Überwachungskapitalismus zu entwickeln” (3), ohnehin eingeschränkt ist.
Schauen wir uns die Fragmentierungstendenzen an, können wir sie als Makro- und Meso-Trends beschreiben.
Makro-Trends bezeichnen große und langfristige historische Entwicklungsmuster, die zu gesellschaftlicher Spaltung und Polarisierung beitragen. Sie können sich auf unser gesamtes Weltsystem auswirken. Beispiele für solche Makro-Trends sind kollektive Traumata als Folge von historischen Umbrüchen oder die Vertrauenskrise in repräsentative Institutionen. Angesichts der Größe von Makro-Trends und ihres Abstraktionsgrades ist es nicht leicht, konkrete Bezüge zum aktuellen Desinformations-Geschehen nachzuweisen, bzw. sie für Maßnahmen gegen Desinformation handhabbar zu machen.
Meso-Trends beschreiben Entwicklungen, die konkrete Ausprägungen der Makro-Trends sind, allerdings auf einer niedrigeren Abstraktionsebene. Der konkrete Zusammenhang zwischen ihnen und der aktuellen Ausbreitung von Desinformation lässt sich ermitteln. Es ist sinnvoll und nützlich sie zu identifizieren, denn sie bilden den Nährboden von gesellschaftlicher Spaltung und Polarisierung. Beziehen wir Meso-Trends nicht ein, entwickeln wir möglicherweise nur Maßnahmen gegen das Symptom Desinformation und kommen nicht an die Ursachen heran. Beispiele für solche Mesotrends sind die wachsende soziale Ungleichheit, fehlende Methodenkompetenz, Misstrauen gegenüber Wissenschaft, psychologische Unsicherheit und Angst vor Veränderungen.
Weitere Beispiele zur Wertschöpfungskette sowie zu Makro- und Meso-Trends findest du auf der interaktiven Info-Karte Desinformation und in der Publikation “Desinformation und das Ende der Wahrheit? Ein umfassender Blick auf Desinformation – Neue Ansätze der Kollaboration.”, die im Rahmen des Projekts „Kompetenznetzwerk gegen Hass im Netz” entstanden sind.
REALIES – Strong civil society for a healthy information ecology. wird vom Auswärtigen Amt gefördert.
Die im Text zusammengefassten Informationen spiegeln nicht zwangsläufig die Meinung des Auswärtigen Amtes und des betterplace lab wider.
Quelle: (1) (2) (3) Desinformation und das Ende der Wahrheit?