Aufdecken und entkräften: Svitlana Slipchenko von VoxCheck

Svitlana Slipchenko, Leiterin des Faktencheck-Projekts VoxCheck, spricht über Strategien und Verfahren zur Bekämpfung von Desinformation, die sich in der Ukraine und weltweit bewährt haben.

Oft hört man von Experten, dass es nicht den einen Ansatz gibt, um ein gesundes Informationsökosystem zu fördern. Was ist ihre Vision von einer ganzheitlichen Strategie?

Will man Desinformation bekämpfen, ist es sinnvoll, sich nicht auf einen einzigen Weg zu beschränken, wie z. B. die Widerlegung von Fälschungen, die Entwicklung von Medienkompetenzen oder die Erstellung von Listen mit zuverlässigen Informationsquellen. Wir brauchen eine vollwertige, umfassende Strategie, die auf allen Ebenen funktioniert: persönlich, journalistisch, öffentlich, staatlich.

Eine solche Strategie kann aus mehreren Komponenten bestehen:

  • Widerlegung von immer wieder auftauchenden und fortlaufenden Fälschungen;

  • Herausstellen der wichtigsten Desinformationsnarrative und Schaffen von Gegennarrativen;

  • Vermittlung von Medienkompetenz verknüpft mit der Förderung der Fähigkeit zum kritischen Denken sowohl auf der Ebene der Schul- und Hochschulbildung bei Kindern und Jugendlichen, als auch auf der Ebene der Berufsausbildung bei Journalisten, IT-Spezialisten, Beamten usw;

  • Ausweitung der Maßnahmen zur Bekämpfung von Desinformation durch digitale Plattformen.

Unter den Bedingungen des groß angelegten Krieges Russlands gegen die Ukraine, beobachten wir derzeit eine sehr starke Synchronisierung in der Frage der Bekämpfung von Desinformation. Hervorzuheben ist die starke Beteiligung von staatlichen Institutionen. Dazu zählen das dem Ministerium für Kultur und Informationspolitik unterstellte Zentrum für strategische Kommunikation und Informationssicherheit, das dem Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrat der Ukraine unterstellte Zentrum für die Bekämpfung von Desinformation sowie verschiedene Ämter und Verwaltungen, die sich in ihren Tätigkeitsbereichen aktiv mit der Informationsökologie befassen.

Auch wie weltweit zusammengearbeitet wird, ist beachtlich. Derzeit beschäftigt sich beispielsweise ein internationales Netzwerk zur Überprüfung von Fakten mit der Widerlegung von Desinformationen über den Krieg in der Ukraine, während die Europäische Beobachtungsstelle für digitale Medien monatlich Berichte erstellt, in denen auf Falschmeldungen über die russische Aggression gegen die Ukraine hingewiesen wird. Es ist also ein TOP-Thema für alle, die an der Gestaltung des Informationsökosystems in der Welt beteiligt sind.

Meiner Meinung nach besteht die Strategie aus einer Reihe von Maßnahmen, die auf allen Ebenen koordiniert werden, von einzelnen Personen bis hin zu internationalen Institutionen.

Trotz des Zusammenhalts und der Aktivität von verschiedenen Organisationen und Fachleuten sind sich laut jüngster Internews-Recherchen die meisten Ukrainer der Existenz von Falschmeldungen zwar bewusst, aber nur wenige können sie erkennen. Was könnte der Grund dafür sein?

Wir sehen, dass die meisten Ukrainer tagtäglich mit Desinformation konfrontiert sind. Gleichzeitig waren laut der Studie nur 14% der Befragten in der Lage, echte Nachrichten von Fake News zu unterscheiden. Zum Vergleich: Im Jahr 2021 lag dieser Wert bei 24%. Die Masse an Nachrichten beeinflusst das kritische Denken der Bevölkerung des Landes. Einer der Gründe dafür ist die Infodemie – die rasche Verbreitung ungenauer und/oder falscher Informationen durch eine extrem große Zahl von Quellen. Ein weiterer Grund ist der Grad des Vertrauens in offizielle Nachrichtenquellen. So vertrauen die Ukrainer im Jahr 2022 nationalen und regionalen Websites und Fernsehsendern viel mehr, gleichzeitig aber haben alle Presseorgane ihre Position aufgrund mangelnder Fakten geschwächt. Die Menschen suchen nach alternativen Informationsquellen, und dabei spielen die sozialen Netzwerke und Messenger eine große Rolle: Über 77% der Ukrainer erhalten darüber Nachrichten.

Über soziale Plattformen ist es zwar möglich, schnell Informationen sowohl über einzelne Regionen als auch das ganze Land zu erhalten, jedoch leidet oft die Qualität unter diesem Tempo. Tausende von Telegram-Kanälen ziehen ein großes Publikum an. Um dieses zu binden, werden dort oft brandheiße News veröffentlicht, ohne dass deren Wahrheitsgehalt überprüft wird. Außerdem wissen wir nie, wer hinter diesen anonymen Kanälen steckt, so dass Telegram eine komfortable Plattform für Propagandisten und Verfasser von Desinformation wird.

Die staatlichen Behörden können Verbindungen zwischen verschiedenen Quellen überprüfen und zurückverfolgen. Im Februar 2021 deckten die Cyber-Spezialisten des ukrainischen Sicherheitsdienstes (SBU) ein groß angelegtes Agentennetzwerk auf, das im Auftrag russischer Spezialdienste aufklärende und subversive Aktivitäten durchführte.

Bereits in diesem Jahr hat sich die Liste erweitert, aber auch das Publikum der Kanäle ist gewachsen. Eine der jüngsten Studien von Detector Media zeigt einen Anstieg der Abonnentenzahl um das 2-3fache. Es gibt also ein riesiges Publikum, das weiterhin Desinformationen konsumiert, häufig ohne es überhaupt zu merken. Hier kommen wir wieder auf die Frage nach umfassenden Maßnahmen zur Steigerung der Medienkompetenz zurück.

Für uns Faktenprüfer, die wir uns auf die Bekämpfung von Desinformation spezialisiert haben, ist es wichtig zu erklären, wie man bestimmte Fälschungen erkennt und wie man echte Nachrichtenquellen findet. Dies sollte Teil unseres Nachkriegsprogramms zum Wiederaufbau der Ukraine sein. Dabei werden Fähigkeiten zum kritischen Denken entwickelt, die in allen Lebensbereichen nützlich sind.
Svitlana Slipchenko von VoxCheck

Wenn wir uns die sozialen Medien anschauen, lohnt es sich zu diskutieren, wie Inhalte auf internationalen Plattformen moderiert werden und welche Auswirkungen das auf die Verbreitung falscher Inhalte hat.

Meiner Meinung nach verfügen die sozialen Netzwerke von Meta über einige der wirksamsten Instrumente zur Bekämpfung von Desinformation. Ihr Programm zur Zusammenarbeit mit Fact-Checking-Organisationen ermöglicht es ihnen, die Reichweite von Nachrichten, die falsche Informationen enthalten, zu verringern: Sie können unkenntlich gemacht oder mit einem Warnhinweis auf eine mögliche Unwahrheit versehen werden. Unter Bloggern und Nachrichtenschreibern gibt es die Meinung, dass dies die Verbreitung echter Informationen einschränkt. Darunter hatten wir auch zu leiden, als wir zu Beginn des Krieges Fotos und Videos veröffentlichten, die die Plattform normalerweise nicht zulässt. Unsere Inhalte wurden im Laufe des Tages verbreitet und dann verwischt, versteckt oder gelöscht. Hier wird die Frage der Moderation von Inhalten deutlich.

Meta hat wiederholt öffentlich und offiziell erklärt, dass sie keine russischen Moderatoren haben, die absichtlich ukrainische Inhalte einschränken würden. Mit dem Beginn des großen Krieges wurde die Moderation allerdings ein wenig zurückhaltender. Das gesamte Bildmaterial, das aus Bucha, Irpin, Izyum, das 2021 online verbreitet wurde, hätte die Plattform überhaupt nicht zugelassen. Die Tatsache, dass sie zwar unscharf, aber dennoch online verfügbar sind, ist bereits ein Schritt in Richtung Ukraine. Es sei daran erinnert, dass Meta ein globales Unternehmen ist. Wenn es also Veröffentlichungen gibt, die deutlich für die Ukraine sind, kann es zu Konflikten mit Nutzern in anderen Ländern kommen. Hier muss die Plattform für ein Gleichgewicht sorgen.

Twitter und YouTube haben ähnliche Moderationsprogramme, aber sie arbeiten nicht mit externen Faktenprüfern zusammen. Auch Google ist zu erwähnen: Schon vor dem Krieg wurden dort Artikel von Faktenprüfern aus der ganzen Welt indexiert. Wenn man nach Informationen sucht, die bereits dementiert wurden, werden bei den Ergebnissen zuerst die Artikel angezeigt, die diese Informationen widerlegen.

Das akuteste Problem bei der Moderation von Inhalten stellt sich, wie ich bereits erwähnt habe, bei Telegram. Es gibt einige Einschränkungen im Zusammenhang mit internationalen Sanktionen, wie z. B. gesperrte Kanäle für bestimmte Länder. Aber es liegt in erster Linie an den Nutzern selbst, diesen oder jenen Inhalt zu filtern.

Moderne Technologien können sowohl bei der Erkennung von Falschinformationen helfen als auch die Desinformation verstärken. Welche der aktuellen Trends haben Ihrer Meinung nach das größte Entwicklungspotenzial?

Bei der Identifizierung falscher Informationen beschleunigen maschinelles Lernen und künstliche Intelligenz die Arbeit erheblich und ermöglichen die Verarbeitung großer Datenmengen. Sie sind allerdings komplex und teuer, und nicht alle Unternehmen können es sich leisten, sie einzusetzen. Für Faktenchecker sind definitiv Kenntnisse und Methoden der Datenanalyse erforderlich. In unserer jüngsten Studie über Telegram-Kanäle haben wir mehr als 5000 Nachrichten von 60 russischen und pro-russischen Kanälen manuell nachgelesen, die wir in 19 Narrativen zusammengefasst haben. Hätten wir die neueste Technologie eingesetzt, hätte das Team nicht zwei Monate lang Schwerstarbeit leisten müssen und vielleicht noch mehr Kanäle und Botschaften identifizieren können. Diese Werkzeuge erhöhen also definitiv die Effizienz und Geschwindigkeit der Arbeit sowie die Reaktionsfähigkeit bei Bedrohungen des Informationssystems.

Was die Verwendung von Bots und Deepfakes angeht, so sind moderne Technologien für soziale Plattformen in der Lage, ihnen entgegenzuwirken. Meta hat bereits eine Studie durchgeführt, die die mangelnde Reaktion von Live-Nutzern der Plattform auf die Kommentare von Bots gezeigt hat. Deepfakes treten nur begrenzt und in so schlechter Qualität auf, dass sie mit bloßem Auge erkennbar sind. Sie können keine lebendige Mimik, natürliche Kopf- und Halsbewegungen usw. wiedergeben. Theoretisch läßt sich dieser Mangel durch absichtlich niedrige Qualität verschleiern, aber es ist doch einfacher, eine andere manipulative Methode anzuwenden – die irreführende Verbreitung von Foto- und Videoinhalten ohne Kontext.

So wurde beispielsweise im Oktober ein Video in Umlauf gebracht, das angeblich aus einem Supermarkt in Kiew stammt und Menschen zeigt, die sich um Lebensmittel schlagen. Wir haben die Informationen überprüft, das Originalvideo gefunden und herausgefunden, dass es 2017 in Omsk, Russland, gefilmt wurde. Es gibt Hunderte von solchen Fällen.

Die russische Propaganda ist sehr simpel, es geht um Quantität, nicht um Qualität. Es gibt so viel davon, dass die Wahrheit oft einfach nicht in den Informationsraum vordringen kann. Oder man nimmt sie in der allgemeinen Masse der Fälschungen nicht wahr. Ja, es gibt zu viele Desinformationen, aber sie sind bereits in Raster und Narrative unterteilt, und die Technologie kann auf solche Mengen reagieren.

Dieser Blogpost ist ein Gastbeitrag von Yanina Shabanova, Kommunikationsleiterin von SocialBoost und 1991 Accelerator.

REALIES – Strong civil society for a healthy information ecology. wird vom Auswärtigen Amt gefördert.

Dieser Gastbeitrag spiegelt nicht zwangsläufig die Meinung des Auswärtigen Amtes und des betterplace lab wider.

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Die erste Folge in der Resilienz-Reihe