Dass Desinformation eine Gefahr für die Demokratie darstellt, ist in aller Munde. Gerade im weltweiten “Superwahljahr” sind die Befürchtungen groß, dass mithilfe von Künstlicher Intelligenz neue Maßstäbe gesetzt werden könnten – im negativen Sinne. Mit Deepfakes, lassen sich täuschend echt wirkende Videos von Politiker*innen oder anderen berühmten Personen herstellen, sodass Fake und Original mit bloßem Auge nicht zu unterscheiden sind. Allein im letzten Jahr hat sich die Zahl von Fake-Nachrichtenportalen verzehnfacht, deren Artikel von einer künstlichen Intelligenz verfasst werden. Wenn die Reichweite groß genug ist, werden diese Seiten gezielt mit Desinformation durchsetzt. Kurz: Die Köcher sind prall gefüllt, für all jene, die auf die Wahrheit schießen wollen.
Und doch ist sie bisher ausgeblieben – die allseits erwartete Überflutung des öffentlichen Diskurses mit KI-generierten Falschmeldungen. Um die EU-Wahlen ist es in dieser Hinsicht erstaunlich ruhig geblieben. Sehen wir hier schon einen Trend für den Rest des Jahres? Zugegeben: Die Beantwortung dieser Frage fällt uns schwer. Und vielleicht ist sie am Ende nicht mal entscheidend. Denn durch unsere kollaborative Arbeit innerhalb der Allianz für die resiliente Informationsgesellschaft, die wir im April diesen Jahres gemeinsam mit CORRECTIV, More in Common, Publix und der ZEIT STIFTUNG BUCERIUS aus der Taufe gehoben haben, lernen wir gerade Dinge, die weit darüber hinaus weisen.
Je mehr wir dem Phänomen Desinformation auf den Grund gehen, desto weitreichender sind die Fragen und Probleme, die sich auftun. Und damit die notwendigen Ansätze, um unsere Gesellschaft resilient im Umgang mit Informationen zu machen. Was wir damit meinen, lässt sich anhand von sechs Fehleinschätzungen zu Desinformationen betrachten, die wir in unserem letzten gemeinsamen Workshop bearbeitet haben (vgl. Altay et al, 2023):
“Desinformation ist ein Problem der sozialen Medien.”: Viele Studien konzentrieren sich auf soziale Medien, da diese methodisch leicht zugänglich sind. Dabei wird oft übersehen, dass aktive Nutzer*innen sozialer Medien nicht repräsentativ für die gesamte Bevölkerung sind und Desinformation auch in traditionellen Medien existiert.
“Das Internet ist voller Desinformation.”: Große Zahlen zur Desinformation müssen ins Verhältnis gesetzt werden. Die Mehrheit der Menschen nutzt das Internet hauptsächlich für Unterhaltung, Shopping, soziale Interaktion oder Arbeit. Der Konsum von Desinformation macht z.B. in den USA nur etwa 0,15% des gesamten Medienkonsums aus.
“Unwahrheiten verbreiten sich schneller als die Wahrheit.”: Diese These hängt stark von der Definition von Desinformation ab. Es bedarf nuancierterer Definitionen, um die potentielle Schädlichkeit und den politischen Bias einer Information zu bewerten.
“Menschen glauben alles, was sie im Internet sehen.”: Das Teilen und Liken von Inhalten bedeutet nicht zwangsläufig, dass Menschen diese Inhalte auch für wahr halten. Oftmals interagieren Nutzer*innen aus anderen Gründen mit Fehlinformationen, wie etwa um soziale Kontakte zu knüpfen oder Zugehörigkeit zu einer Gruppe zu signalisieren.
“Eine große Anzahl von Menschen ist desinformiert.”: Umfrageergebnisse überschätzen oft das Ausmaß von verbreitetem Irrglauben. Tatsächlich sind die Menschen eher uninformiert als falsch informiert.
“Desinformation hat einen starken Einfluss auf das Verhalten der Menschen.”: Der Einfluss von Desinformation wird überbewertet, da meist nur bestehende Überzeugungen verstärkt werden. Selbst wenn Desinformation neue Überzeugungen bildet, bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass diese Überzeugungen das Verhalten beeinflussen.
In der Allianz für die resiliente Informationsgesellschaft arbeiten wir ganz konkret an der Frage, wie wirksame und zukunftsweisende zivilgesellschaftliche Arbeit zu Desinformation aussehen kann. Was braucht es, um dem Phänomen in seiner gesellschaftlichen, medientheoretischen wie auch individualpsychologischen Komplexität gerecht zu werden?
Um das zu beantworten, entwickeln und konzipieren wir verschiedene Konzepte und Themen-Tracks. Unsere Arbeit widmet sich dabei zwei zentralen Ideen:
Erstens sehen wir großen Bedarf an nuancierter Forschung:
Es braucht eine stärkere Beschäftigung mit subtilen Formen von Desinformation, die danach fragt, wie und wo Mechanismen der medialen Inszenierung zu einer verzerrten Wahrnehmung der Realität führen (medientheoretischer Ansatz).
Darüber hinaus wollen wir besser verstehen, wie Menschen Informationen nutzen, die sie online konsumieren – und wie sich das je nach sozialem Milieu voneinander unterscheidet (sozialwissenschaftlicher Ansatz).
Zuletzt interessiert uns auch die Beeinflussbarkeit von Menschen selbst (integraler Ansatz). Mit welchen (unterschiedlichen) Filtern nehmen wir die Welt wahr und welche Realität bildet das in uns ab? Kann ein und dieselbe (Des-)information völlig unterschiedliche individuelle Realitäten hervorrufen? Und wenn ja, warum?
Zweitens wird deutlich, dass es eine neutrale Anlaufstelle für den deutschsprachigen Raum braucht, die…
… Orientierung zum Thema schafft und eine Übersicht herstellt, wer sich bereits engagiert, um Desinformation zu begegnen und eine resiliente Informationsgesellschaft aufzubauen.
… Vernetzung und Vermittlung leistet, indem sie Menschen und Organisationen zu bestimmten Fragestellungen oder für gemeinsame Initiativen zusammenbringt. Es gilt hier eine Brücke zwischen Akteur*innen aus unterschiedlichen Bereichen zu schlagen. Dazu zählt die aktive Zivilgesellschaft, Politik, Wirtschaft, Medien, Stiftungen, Think Tanks sowie Wissenschaft, Kultur und Tech-Plattformen.
… einen Diskurs neutral moderiert zwischen Expert*innen und Akteuren zum Thema
Denn eines ist sicher: Wollen wir wirksame gesellschaftliche Antworten auf ein Phänomen wie Desinformation entwickeln, braucht es gesamtgesellschaftliche Anstrengungen. Denn unter der Oberfläche kurzzeiliger Falschnachrichten liegt nicht weniger als eine manifeste Vertrauenskrise in die öffentlichen Institutionen unserer Gesellschaft. Dieser gilt es künftig zu begegnen.
Die Allianz für die resiliente Informationsgesellschaft wird gefördert von der Schöpflin Stiftung und von der ZEIT Stiftung Bucerius.